Die Kolumne – Eine Agenda für heilige Kühe
Es ist absurd, Reformen zurückdrehen zu wollen, wenn sie prima wirken. Genauso absurd ist aber, der Agenda 2010 deshalb jetzt Wunderwirkung anzudichten. Viel wichtiger wäre eine nüchterne Zwischenbilanz.
Die einen wollen wieder mehr Arbeitslosengeld auszahlen, die anderen halten für diesen Fall den Untergang des Abendlands für wahrscheinlich. Was die Deutschen sich gerade leisten, ist eine merkwürdige Agenda-Debatte. Und das gilt für beide Seiten.
Der Versuch, die Agenda aus irgendwie sozialer Neigung zurückzudrehen, ist womöglich ebenso dämlich wie die hastige Kritik derer, die mit hohem Sendungsdrang plötzlich behaupten, dass der Aufschwung unserer kürzlich noch totgesagten Wirtschaft mit der tollen Agenda von Gerhard Schröder zu tun hat.
Viel wichtiger wäre eine nüchterne ökonomische Zwischenbilanz, und die fällt weit weniger umwerfend aus. Vielleicht wäre es derzeit in der Tat dringlich, die Agenda dort zu korrigieren oder zu ergänzen, wo sie im Finanzkrisenherbst 2007 mehr wirtschaftlichen Schaden anzurichten droht, als Nutzen zu stiften.
Wenn Reformen für Jobabbau sorgen
Es ist nicht lange her, da galt die Wirtschaft als siech und die Agenda bestenfalls als „erster Schritt in die richtige Richtung“. Jetzt schwärmt der Bundespräsident von „mutigen Reformen“, die „wesentlich“ zum Abbau der Arbeitslosigkeit um eine Million beigetragen hätten. Das Institut der deutschen Wirtschaft schätzt den Reformbeitrag mutig auf 30 Prozent, im Auftrag der eifrigen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Und Ökonomen wie Michael Burda erklären selbst die Börsenwende 2003 nun mit der damaligen Agenda-Rede – als seien die Aktien im März 2003 nicht überall auf der Welt gestiegen: weniger wegen unserem Gerd, sondern weil die Börsen rund um den Globus damals euphorisch auf schwindende Irakkriegsängste reagierten.
Es spricht einiges dafür, dass Agenda-Reformen hier und da positiv wirken. Klar. Nur belegt das noch nicht, dass es deswegen den Aufschwung gibt – oder wie viel Wachstum an einzelnen Reformen wirklich festzumachen ist.
Zur Agenda gehörte, die Handwerksordnung zu liberalisieren. Das hat zwar seit 2003 zu einer Zunahme der Handwerksbetriebe um fast 14 Prozent geführt. Die Zahl der Jobs sank in der Branche zeitgleich aber fast ungebremst weiter (um fast sieben Prozent), selbst im Aufschwungjahr 2006. Von wegen „wesentlicher Beitrag“.
In Deutschlands Einzelhandel arbeiten trotz liberaler Öffnungszeiten heute 100000 Vollzeitbeschäftigte weniger als 2003 – was nur zur Hälfte durch Teilzeit aufgefangen wurde. Auch das klingt nicht gerade nach Wachstumsmotor.
Zur Agenda zählten auch die Versuche, Deutschlands Gesundheitssysteme zu reformieren. Das mag weitere Beitragsschübe gebremst haben. Nur liegen die Sätze für die gesetzliche Krankenversicherung 2007 trotzdem 0,5 Punkte höher als im Agenda-Jahr 2003. Und richtig Wettbewerb gibt es nach wie vor nicht.
Ähnliches gilt für die Rente, die heute natürlich sicherer ist. Das Gute ist hier, dass der zwischenzeitlich eingeführte Nachhaltigkeitsfaktor wegen des Jobbooms derzeit den Rentenanstieg beschleunigt – was zwar nicht das Ziel war, im Gegenteil, 2008 aber den Konsum in Deutschland stützen könnte. Ist ja auch etwas.
Nach der Agenda sanken die (Einkommen-) Steuersätze. Prima. Nur hat das so viele Lücken in den Etat gerissen, dass die Große Koalition die (Mehrwert-)Steuer jetzt wieder anhob. Toll. Der Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt liegt dieses Jahr nach Schätzung des Instituts für Weltwirtschaft bei 24,4 Prozent – 1,6 Punkte höher als 2003. Komisches Wachstumsmittel. Alles in allem ist die Belastung mit Steuern und Abgaben de facto wieder so hoch wie zu Zeiten, als es noch keine Agenda 2010 gab.
Selbst bei Hartz IV kommt man auf eher ernüchternde Indizien. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) berichten einige Unternehmen zwar, dass sie 2005 vermehrt auf Arbeitslose gestoßen seien, die für einen Job zu Konzessionen bereit waren. Ob das zum Boom beigetragen hat, ist fraglich. Die Zahl offener Stellen ist seit 2005 enorm gestiegen – anders, als es der höhere Druck auf Arbeitslose vermuten ließ. Entsprechend vorsichtig sind die IAB-Forscher: Ohne Hartz IV wäre der Jobboom „etwas schwächer verlaufen“.
Der Hauptgrund muss ein anderer sein: Die Wende setzte ein, als die Konjunktur schlicht wieder zu laufen begann, es keine Schocks mehr gab und das Wirtschaftswachstum zwei Prozent erreichte. Wie früher, als es noch keine Agenda gab. Vielleicht war es sogar prima, dass die Koalition 2006 auf neue Großreformen verzichtete und die Wirtschaft in Ruhe ließ.
Esoterische Stimmungslehre
Natürlich lassen sich noch Reformen finden, die zum Aufschwung „etwas“ beigetragen haben könnten – ob einfachere Regeln für Zeitarbeit, die es überraschten Firmen 2006 ermöglichten, Kräfte zu finden. Oder dass Arbeit relativ weniger mit Abgaben belastet wird. Es wäre wenig sinnvoll, so etwas zurückzuschrauben.
Nur muss man die Agenda deshalb nicht zum Wundermittel stilisieren. Oder zur heiligen Kuh deklarieren, wie es die erklärten Reformer der SPD bei jeder Kritik besinnungslos tun. Da hilft auch der esoterische Hinweis nicht, dass Reformen vielleicht auch einfach für gute Stimmung sorgen. Fragt sich, warum die Stimmung dann jetzt schon wieder nachlässt.
Nach allem, was nüchtern belegbar ist, hat die Agenda den Aufschwung auf relativ bescheidene Art verstärkt. Und selbst das ist nicht so sicher. Denn: Zur Bilanz gehört auch das, was der Reformeifer an Kollateralschäden womöglich mit sich gebracht hat – und was Konjunkturauguren zunehmend Sorge bereitet. Könnte sein, dass die Deutschen vor lauter Hartz IV mittlerweile so beeindruckt von der (eifrig beförderten) Angst vor Arbeitslosigkeit oder steigenden Kosten sind, dass sie nun tun, was logisch ist: aus lauter Angst aufs Konsumieren verzichten. Vielleicht liegt hier der dringlichere Korrekturbedarf an Deutschlands Agenda 2010. Auflösung folgt – in Teil 2.
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