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Joseph Stiglitz – Das war’s, Neoliberalismus

17. Juli 2008

Die Finanzkrise und die Erfahrungen der Entwicklungsländer zeigen: Die neoliberale Idee ist gescheitert.

Die Welt hat es nicht gut gemeint mit dem Neoliberalismus – dieser Wundertüte an Konzepten, die auf der Vorstellung beruhen, dass die Märkte sich selbst regulieren, Ressourcen effizient verteilen und den Interessen der Öffentlichkeit dienen. Dieser Marktfundamentalismus bildete die Basis von Thatcherismus, Reaganomics und dem sogenannten Washington-Konsens. Der diente als theoretische Grundlage, um Privatisierung und Liberalisierung zu forcieren sowie unabhängige Zentralbanken, die sich auf die Bekämpfung der Inflation und sonst nichts konzentrieren.

Nach über einem Vierteljahrhundert des Wettbewerbs unter den Entwicklungsländern stehen die Verlierer fest: Länder, die einen neoliberalen Kurs verfolgten, verloren ihre Wachstumsgewinne. Und wenn sie Wachstum verzeichnen konnten, profitierten davon in überproportionaler Weise die Eliten.

Obwohl die Neoliberalen es nicht zugeben wollen, fiel ihre Ideologie auch bei einem anderen Test durch. Niemand kann nämlich behaupten, dass die Finanzmärkte in den späten 90er-Jahren ihre Aufgabe der Ressourcenverteilung brillant bewältigten, nachdem zum Beispiel 97 Prozent der Investitionen in die Glasfasertechnik erst nach Jahren das Licht der Welt erblickten. Aber wenigstens führte dieser Fehler zufällig zu einem Vorteil: Dank gesunkener Kommunikationskosten integrierten sich Indien und China besser in die Weltwirtschaft.

Versagen auf dem Immobilienmarkt

Schwer zu erkennen sind jedoch derartige Vorteile im Hinblick auf die massive Fehlallokation von Ressourcen im Immobilienbereich. Millionen von US-Familien hat die Hypothekenkrise dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Mancherorts ist die Regierung eingesprungen, anderswo greift die Plage weiter um sich. Natürlich nutzte die Immobilienblase kurzfristig manchen Amerikanern, die für eine Weile das Leben in einem größeren Heim genossen, als sie es sich sonst hätten leisten können. Aber zu welchem Preis. Millionen verlieren mit ihren Häusern zugleich ihre Lebensersparnisse. Und die Zwangsversteigerungen haben zu einem weltweiten Abschwung geführt. Über die weiteren Aussichten herrscht zunehmend Einigkeit: Dieser Abschwung wird anhalten, und er wird weite Kreise ziehen.

Ebenso wenig haben uns die Märkte auf rasant steigende Öl- und Lebensmittelpreise vorbereitet. Natürlich ist keiner dieser Sektoren ein Beispiel für freie Marktwirtschaft, aber genau das ist Teil des Problems: Die Rhetorik vom freien Markt wird selektiv angewandt – hervorgehoben, wenn sie speziellen Interessen dient, und verworfen, wenn dies nicht der Fall ist.

Die Mischung aus rhetorischem Einsatz für freie Märkte bei gleichzeitigen staatlichen Interventionen hat sich besonders für die Entwicklungsländer negativ ausgewirkt. Ihnen legte man nahe, Interventionen im Bereich Landwirtschaft zu unterlassen. Dadurch wurden die Bauern dieser Länder der verheerenden Konkurrenz der USA und Europas ausgesetzt. Sie wären in der Lage gewesen, im Wettbewerb mit amerikanischen und europäischen Landwirten zu bestehen – aber nicht im Wettbewerb mit den Subventionen in den USA und der EU. So verwundert es nicht, dass die Agrarinvestitionen in den Entwicklungsländern zurückgingen und sich die Nahrungsmittellücke vergrößerte.

Diejenigen, die diese falschen Ratschläge verbreitet haben, müssen sich nun aber nicht um eine Versicherung gegen Verletzungen ihrer Berufspflicht sorgen. Die Kosten tragen ohnehin die Entwicklungsländer – und hier vor allem die Armen. Die Armut wird in diesem Jahr enorm ansteigen, besonders wenn man sie korrekt misst. Höhere Lebensmittel- und Energiepreise haben einen verheerenden Effekt auf die Armen, weil sie einen größeren Teil ihrer Ausgaben ausmachen. Auf der ganzen Welt ist die Wut spürbar. Es überrascht nicht, dass Spekulanten mehr als nur ein bisschen von dem Zorn abbekommen haben. Die argumentieren ihrerseits: Wir sind nicht die Ursache des Problems, sondern beschäftigen uns nur mit der „Preisfindung“. Und finden heraus – natürlich etwas zu spät, um in diesem Jahr noch groß etwas gegen das Problem zu unternehmen –, dass Knappheit herrscht.

Fatale Anreize für Bauern

Diese Antwort ist aber unredlich. Die Erwartung steigender und volatiler Preise veranlasst Millionen von Bauern, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Sie könnten ja vielleicht mehr verdienen, wenn sie einen kleinen Teil ihres Getreides heute im Lager behalten, um es zu einem späteren Zeitpunkt zu verkaufen. Und wenn es ihnen nicht gelingt, kommen sie ins Schleudern, wenn die Ernte im nächsten Jahr geringer ausfällt als erhofft. Es kommt einiges zusammen, wenn Hunderte Millionen Bauern auf der ganzen Welt dem Markt jeweils ein klein wenig Getreide entziehen.

Verteidiger des Marktfundamentalismus wollen die Schuld weg vom Marktversagen hin auf das Versagen der Regierungen lenken. Ein hochrangiger chinesischer Funktionär wurde dieser Tage mit den Worten zitiert, wonach das Problem die US-amerikanische Regierung sei, die ihren einkommensschwachen Bürgern bei ihren Immobilienproblemen stärker hätte unter die Arme greifen sollen. Dieser Sichtweise stimme ich zu. Aber das ändert nichts an den Fakten: Die US-Banken haben Risiken in kolossalem Maßstab fehlgemanagt, mit weltweiten Folgen, und die Verantwortlichen dieser Institutionen verabschiedeten sich mit Abfindungen in Milliardenhöhe.

Heute herrscht ein Ungleichgewicht zwischen sozialen und privaten Erträgen. Werden diese nicht einander angeglichen, kann das Marktsystem nicht gut funktionieren.

Der neoliberale Marktfundamentalismus war immer eine politische Doktrin, die gewissen Interessen diente. Sie wurde nie von der ökonomischen Theorie gestützt, ebenso wenig von historischen Erfahrungen. Wenn diese Lektion jetzt gelernt wird, wäre das ein Hoffnungsschimmer hinter der dunklen Wolke, die momentan über der Weltwirtschaft hängt.

Joseph Stiglitz ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Columbia University.

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