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Thomas Straubhaar – Der große Irrtum

5. Oktober 2011

Der Effizienzmythos der Finanzwelt strauchelt heftiger denn je. Funktionierende Märkte benötigen Gesetze, Reglen und Sanktionen.

Über Jahrzehnte dominierte in der Ökonomie die Überzeugung, dass auf Finanzmärkten Effizienz die Regel und Marktversagen die Ausnahme sei. Heerscharen von Studierenden wurden auf den Glauben getrimmt, Börsenkurse würden stets alle verfügbaren Informationen rational und richtig widerspiegeln. Zehn Jahre nach dem Entstehen einer Kreditblase als Folge einer New Economy, die ewiges Wachstum versprach und erst eine Immobilien-, dann eine Finanzmarkt- und nun eine Staatsschuldenkrise brachte, und drei Jahre nach Lehman Brothers und den darauf folgenden staatlichen Hilfsmaßnahmen zum Verhindern einer Kernschmelze der Weltwirtschaft ist es an der Zeit, den Effizienzmythos vom Sockel zu holen. Dabei geht es weniger darum, die gut bekannten Gründe aufzulisten, warum Finanzmärkte bei Weitem nicht so effiziente Informationsverarbeiter sind, wie üblicherweise angenommen wird.


Herdenverhalten

Es ist sattsam bekannt und gut analysiert, dass auf Finanzmärkten Marktmacht und Marktversagen weit häufiger vorkommen als gemeinhin vermutet. Dass Banken viel zu groß werden, nicht weil sich das betriebswirtschaftlich rechnet, sondern um systemrelevant und damit „too big to fail“ zu werden. So werden sie im Krisenfall mit staatlicher Hilfe gerettet, während kleine Banken  sich selbst überlassen bleiben. Dass Informationen gerade auf Finanzmärkten in der Regel asymmetrisch auftreten und eben nicht allen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Dass Anpassungsgeschwindigkeiten auf Finanzmärkten und Gütermärkten mittlerweile derart divergieren, dass daraus Dissonanzen entstehen, die in der Realwirtschaft zu höherer und damit makroökonomisch kostspieliger Volatilität werden.

 Herdenverhalten, emotionale Panik, Eigendynamik und automatische Verhaltensregeln tun ein Übriges, um auf Finanzmärkten Blasen entstehen zu lassen. Und schließlich argumentieren Neuroökonomen, dass Menschen nicht immer rational handeln. Vielmehr werde individuelles Handeln von Zufälligkeiten, Stimmungen, Gewohnheiten und von einem Unterbewusstsein gesteuert, das neuronalen, nicht jedoch ökonomischen Gesetzen gehorche.

Die eigentlich viel spannendere Frage lautet: Wie konnte und kann es sein, dass sich die These effizienter Finanzmärkte so lange so prominent hat halten können, obschon all die Gründe ihres Versagens bestens untersucht sind, sie empirisch längst widerlegt war und sie nun durch die verschiedenen Krisen der letzten Dekade erst recht diskreditiert ist? Warum haben so wenige – auch ich nicht  – kritisch hinterfragt, wer, erstens, ein ganz profanes persönliches Interesse am Effizienzmythos der Finanzmärkte hat und wer, zweitens, in welcher Form auch immer in der Praxis vom Glauben an die Effizienz von Finanzmärkten profitiert. Der Denkansatz der politischen Ökonomie bietet für mögliche Antworten die notwendigen analytischen Werkzeuge.

Paradigmenwechsel

Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Überzeugung von effizienten Finanzmärkten derart unverrückbar in den Lehrbüchern festgesetzt hat? Das hat ganz sicher etwas damit zu tun, wie man in ökonomischen Fachkreisen Reputation erlangt. Und damit, was „angesagt“ ist und publiziert wird in jenen akademischen Zeitschriften, die als Grundlage von Rankings genommen werden, die wiederum ein Maßstab sind für die Zuteilung von Forschungsmitteln. Wenn der Mainstream der Meinung ist, dass Finanzmärkte effizient sind, dann ist es für Abweichler enorm riskant, gegen das Kartell jener zu opponieren, die als Insider über die Vergabe von Professorenstellen, Forschungsaufträgen und Budgets bestimmen. Dann ist es vielleicht aus einer individuellen Sicht in der Tat klüger, mit dem Strom zu schwimmen als dagegen. Nur wenn alte theoretische Konzepte zu offensichtlich der Realität widersprechen, kann sich ein Paradigmenwechsel für die Kartellbrecher lohnen. Möglicherweise ist mit Blick auf den Effizienzmythos der Finanzmärkte diese Zeit jetzt gekommen.

Zweitens müsste der politische Ökonom den Mut haben, hinter die Kulissen des Meinungskartells zu gehen. Vielleicht zeigt sich dann, ob er einer populistischen Verschwörungspolemik unterliegt, wenn er vermutet, dass einzelne Vertreter der Finanzbranche ein gewaltiges finanzielles Interesse am Entstehen und Kultivieren des Effizienzmythos haben. Beispielsweise, weil dann auch politische Entscheidungen und rechtliche Rahmenbedingungen oder Regulierungs- und Kontrollbehörden von der These der Effizienz ausgehen und die Beweislast von jenen zu tragen ist, die auf Marktmacht und damit Marktversagen klagen. Ist es denn unredlich zu hinterfragen, ob sich aus individuellen Profiten eine Bereitschaft ableiten lässt, sich den mit wissenschaftlicher Akribie gehegten und gepflegten Fortbestand der Effizienzthese auch etwas kosten zu lassen?

Drittens ist es vielleicht ganz anders. Das aktuelle erratische Auf und Ab an den Börsen kann für einzelne Interessengruppen mikroökonomisch durchaus effizient sein. Es gibt eine Menge Akteure, die stark schwankende Börsenkurse nutzen können, weil sie an jeder einzelnen Transaktion mitverdienen. Volatilität ist oft eine gern genutzte Rechtfertigung, Portfolios umzuschichten und für Dritte Wertschriften zu kaufen oder zu verkaufen und damit Provisionen oder Gebühren einstreichen zu können. Hier zeigt sich, dass das Principal-Agent-Problem nicht nur ein Spannungsfeld zwischen dem Eigentümer von Vermögen und dem Verwalter von Vermögen erzeugt, sondern ebenso zu einem Zielkonflikt zwischen individueller und gesamtwirtschaftlicher Effizienz führen kann.

Viertens laden gewisse Marktstrukturen, Regulierungen und Absprachen geradezu ein, auf fallende Börsenkurse zu wetten. Wenn das Urteil einzelner Ratingagenturen in der Lage ist, einen Börsencrash auszulösen, dann muss die Versuchung groß sein, mit dem Wissen einer Bonitätsänderung und einem geschickt inszenierten Informationsmanagement prächtig Geld zu verdienen. Die amerikanische Börsenaufsicht prüft gerade, ob und wie die Betreiber von Hedge-Fonds und Brokerfirmen Insiderinformationen von der Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) nutzen konnten, um auf fallende Kurse zu wetten.

Viele andere Interessengruppen wären zu untersuchen, um besser erkennen zu können, wer auf den Finanzmärkten mit welchen Maßnahmen seine eigenen Ziele verfolgt. Dabei ist aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht das Verfolgen von Einzelinteressen keinesfalls schädlich. Im Gegenteil: Kapitalismus und Marktwirtschaft leben davon, dass Menschen nach ihrem individuellen Glück streben. Adam Smith erkannte richtigerweise, dass die unsichtbare Hand des Marktes dafür sorgt, dass aus egoistischem Handeln auch altruistische Folgen zum Wohle aller entstehen. Aber nicht alles – und nicht automatisch – ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll, was mikroökonomisch gewünscht wird. Aus einer makroökonomischen Perspektive ist es deswegen wichtig zu untersuchen, wie weit individuelles Gewinnstreben im konkreten Fall mit makroökonomischen Zielen übereinstimmt.

Neue politische Ökonomie

Es gibt Marktversagen, Marktmacht, Informations- und Anpassungsdefizite sowie zeitliche Zielkonflikte, weil sich einzelne Menschen an kürzeren Perioden orientieren als Gesellschaften. Sie alle provozieren eine Diskrepanz zwischen mikro- und makroökonomischer Rationalität. Daher ist individuelles Entscheiden, Handeln und Streben nach persönlichem Erfolg so zu regulieren, dass daraus auch „überlebensfähige“ Lösungen für die Gesellschaft insgesamt entstehen.

 Jared Diamond beschreibt in seinem Buch „Kollaps“ aus einer anthropologischen Perspektive, wie mangelnde Voraussicht, ungenügende Wahrnehmung, gesamtwirtschaftlich irrationales Verhalten als Folge individuell rationalen Verhaltens, Fehlentscheidungen und gescheiterte Lösungsversuche wichtige Erklärungsfaktoren für den Zerfall von Volkswirtschaften sein können. Und Mancur Olson hat in seinem Aufsatz über den „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ gezeigt, wie mikroökonomisches Gewinnstreben zu makroökonomischem Untergang führen kann. Später hat er auf den Zusammenhang von „microeconomic incentives and macroeconomic decline“ hingewiesen.

 Entsprechend sollten Politik und Gesellschaft Gesetze und Regeln, Anreize und Sanktionen dergestalt setzen, dass Menschen dazu gebracht werden, sich so zu verhalten und ihr Tun oder Lassen so zu verändern, dass mikro- und makroökonomisches Erfolgsstreben möglichst deckungsgleich werden. Es spricht wenig dafür, dass man dieses Ziel auf den Finanzmärkten bereits erreicht hat. Noch fehlt es an einer politischen Ökonomie 3.0.

Thomas Straubhaar ist Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI)

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