Jahrestagung des VfS 2012: Wem gehört das deutsche Jobwunder?
Der Kollege Ohanian hatte gestern die Freude, den recht unterhaltsamen Vorträgen zweier einstiger Weggefährten und Freunde beizuwohnen: Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine. Beide hatten recht unterschiedliche Sichtweisen auf die Agenda-Reformen. Hier der Erlebnisbericht zum Göttinger Kampf um die Deutungshoheit über die Hartz-Reformen von Mathias Ohanian:
Weil der Applaus nicht abebbt, tritt Gert Wagner nicht sofort vom Podium: „Am Beifall merken Sie, dass Sie vor einem Publikum sprechen, das die Hartz-Reformen durchaus schätzt“, schickt der Chef des größten deutschen DIW-Instituts seiner Einleitung hinterher. Der folgende Auftritt im fast voll besetzten Hörsaal auf dem Göttinger Uni-Campus wird zum Heimspiel für Altkanzler Gerhard Schröder – nicht nur weil er hier Jura studiert hat.
Sondern weil seine Arbeitsmarktreformen, von denen er nun sprechen soll, weitgehend auf die Empfehlungen der deutschen Volkswirte aufbauten. Auch dafür gibt es auf der Jahreskonferenz des Vereins für Socialpolitik (VfS), der größten Ökonomenvereinigung im deutschsprachigen Raum, nun Beifall. Noch Anfang der 2000er-Jahre sei Deutschland als kranker Mann Europas bezeichnet worden, sagt Schröder – heute sei es „so etwas wie die starke Frau“. Es folgen Sätze wie: „Wir haben die Deutschland AG revitalisiert.“
Rund 200 Meter Luftlinie entfernt, im vierten Stock eines Nebengebäudes auf dem Campus, drängeln sich am selben Nachmittag Journalisten und Kameraleute in ein für 60 Personen bestuhltes Zimmer. Hier wird ebenfalls gleich ein Dino der deutschen Politik eine Rede über die Hartz-Reformen halten. Die Urteile könnten unterschiedlicher kaum ausfallen: „Der neoliberale Zeitgeist hat unsere Gesellschaft unglücklicher gemacht“, sagt Oskar Lafontaine, früher Freund und Finanzminister Schröders, heute Oppositionsführer der Linken im Saarland. Eingeladen hat ihn nicht etwa der VfS, sondern eine Gruppe von Studenten, die erstmals eine Gegenveranstaltung zur VfS-Jahreskonferenz initiiert haben. Weil sie die Einseitigkeit der ökonomischen Debatte in Deutschland leid sind.
Was an diesem schwülen Montag zunächst anmutet wie ein weiterer trotziger Versuch Lafontaines, seinem alten Kontrahenten die politischen Meriten zu klauen, ist unter der Oberfläche ein Kampf um die historische Deutungshoheit über das größte wirtschaftspolitische Projekt im Deutschland der 2000er-Jahre. Über die Interpretation einer Reform, die das soziale Gefüge in Deutschland so massiv verändert und entsprechende Proteststürme ausgelöst hat wie wahrscheinlich keine andere politische Maßnahme seit dem Zweiten Weltkrieg.
Im August 2002 stellte Schröder in Berlin sein Programm vor – zehn Jahre danach hat sich der Wind gedreht. Die Arbeitslosigkeit ist mit 2,9 Millionen Menschen auf Rekordtief. Lobt Schröder die Reformen, lobt er die im Hörsaal versammelte deutsche Ökonomenprominenz. Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn ist anwesend, ebenso der Sachverständige Wolfgang Franz. Selbstverständlich, so Schröder, seien die wirtschaftlichen Erfolge auch den Reformen zu verdanken. Das reiche jedoch nicht: „Wir müssen weiter an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten.“
Die Zahlen Lafontaines sind andere. Die Reformen hätten zu stagnierenden Reallöhnen geführt, und anders als oft kolportiert hätten sie auch nicht mehr Arbeit geschaffen: „Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist heute genauso hoch wie im Jahr 2000.“ Studenten in T-Shirts nicken zustimmend. Lafontaine gestikuliert viel, mit einem Headset ums Ohr, wirkt agiler als Schröder. Es gehe darum, dass die deutschen Löhne mit der Inflation und dem Produktivitätsplus steigen sollten. Das sei heute im Gegensatz zur Vorkrisenzeit auch Linie der SPD. Die Reformen seien gar mitverantwortlich für die Euro-Krise – weil sich dadurch die Euro-Staaten auseinanderentwickelt hätten. In Deutschland eine Außenseitermeinung, international sehen es viele Ökonomen so.
Von einer Mitverantwortung für die Krise spricht Schröder freilich nicht, räumt aber ein, dass mit den Reformen „der eine oder andere Unterstützer verloren“ gegangen sei. Tatsächlich schufen die Hartz-Gesetze den Boden für eine Partei links der SPD, bald entstand die Linke. Damit muss sich der Altkanzler heute nicht mehr herumschlagen – lieber lässt er sich nach der Rede in Göttingen mit Studenten und Fans fotografieren. Die SPD aber muss heute um die Stimmen der Linken kämpfen – und darum, die Euro-Krise in den Griff zu bekommen.
Es ist schon erstaunlich, wie eine winzige Anzahl Eifernder es geschafft hat, mit Erlass der Hartz4-Gesetze unter Missachtung des Grundgesetzes, Millionen andere Menschen in Not und Armut zu treiben.