Thomas Fricke: Konjunkturprogramm nach Brexit – Ein Pakt gegen die Brezession
Das Briten-Votum schockiert die Finanzmärkte – und droht auch die deutsche Wirtschaft zu lähmen. Was die Europäer jetzt brauchen, ist ein Notfallpaket gegen die Schockstarre. Und seien es Schecks für alle.
Natürlich neigen Finanzjongleure dazu, zu übertreiben und in Panik zu geraten – selbst wenn das in keinem Verhältnis mehr zur Realität steht. Das Ding ist: Was am Freitagmorgen an den Märkten zu sehen war, seit bekannt wurde, dass die Briten aus der Europäischen Union austreten wollen, könnte ziemlich gut spiegeln, was nicht nur den Briten in den nächsten Monaten wirtschaftlich droht. Sondern auch uns.
Es geht dabei weniger darum, dass die Briten vielleicht künftig etwas mehr bezahlen müssen, um an den europäischen Binnenmarkt zu kommen. Oder dass wir wieder Visa brauchen könnten, um durch den Tunnel zu kommen. All das würde Geld kosten, die Wirtschaft aber kaum aus der Bahn werfen.
Die akute Gefahr ist, dass sich alle Beteiligte jetzt in eine Zeit geworfen sehen, in der auf Monate oder Jahre nicht klar ist, unter welchen Bedingungen genau Geschäfte gemacht werden,
- ob die Zölle steigen oder nicht,
- es mit Drittländern ganz neue Handelsabkommen geben wird,
- es statt EU-Normen wieder ganz andere britische gibt
- und wie viele (EU-ausländische) Arbeitskräfte künftig noch ins Land gelassen werden und der Wirtschaft zur Verfügung stehen.
Und das unter einem wahrscheinlichen Premier Boris Johnson, der gerade gezeigt hat, dass er für ordentlichen Populismus viel Vernunft liegen zu lassen bereit ist. Ein Donald Trump für die Insel.
Das Beängstigende ist: Es spricht einiges dafür, dass sich trotz aller Studien und Debatten der vergangenen Wochen ein Großteil der Verantwortlichen in den Unternehmen noch gar nicht auf das Brexit-Szenario eingestellt hat – und jetzt ähnlich unvorbereitet ist wie die Akteure an den Finanzmärkten. Wären die Optionen ansatzweise antizipiert worden, wäre das britische Pfund nicht zeitweise auf den tiefsten Stand seit 1985 abgerutscht. Und es hätte kein frühes Minus von zehn Prozent beim deutschen Aktienindex Dax gegeben. Dann wäre das ja längst eingepreist gewesen, wie die Finanzjongleure sagen.
Alles an Investitionen stoppen
Es lässt sich erahnen, wie international agierende Unternehmer auf der Insel jetzt erst einmal reagieren: Sie werden alles auf Eis legen, was an Projekten und Investitionen nicht unbedingt angestoßen werden muss. Solange bis klar ist, wie es weiter geht. Brisant: Wenn das dazu führt, dass nur ein Zehntel der geplanten Investitionen bis auf Weiteres ausbleiben, reicht das aller Erfahrung nach aus, um eine Wirtschaft in die Rezession zu katapultieren – und die Arbeitslosigkeit steigen zu lassen. Das muss nicht so kommen, aber das Risiko ist seit heute früh enorm hoch.
Das Drama ist: Dieselbe Logik droht auch in Deutschland und dem Rest Kontinentaleuropas zuzuschlagen, wenn auch abgeschwächt. In einer Zeit, in der fast überall die nächsten Populisten mit irren Vorschlägen herumlaufen – und über Austritte aus EU oder Euro fabulieren. Und in der die Eurokrise ohnehin schon tiefe Unsicherheit über die künftige Union hinterlassen hat.
Wie heikel so ein Schwebezustand wirtschaftlich wirken kann, lässt der aktuelle Zustand der deutschen Wirtschaft erahnen. Eigentlich spricht alles dafür, dass die Unternehmen wieder richtig ordentlich investieren: Nie war die Finanzierung so günstig, die Zinsen liegen bei null, die Bilanzen sind saniert, die Gewinne historisch hoch, und die Nachfrage im Land wächst. Trotzdem investiert die deutsche Wirtschaft heute weniger in die Zukunft als vor acht Jahren, vor Ausbruch der Finanzkrise. Das lässt sich kaum anders erklären, als dadurch, dass keiner mehr richtig weiß, was in ein paar Jahren ist. Und ob und wie die Eurozone künftig noch funktionieren wird.
Zwar hat EZB-Chef Mario Draghi (zum Glück) 2012 klargestellt, dass er alles tun werde, den Euro in seiner heutigen Form zu wahren, wie es sich für eine Notenbank gehört. Der Haken: Die Bundesregierung demonstriert auf atemberaubend fahrlässige Weise, dass das nicht so selbstverständlich ist – spätestens seit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vergangenen Sommer das Tabu gebrochen hat, auch den freundlichen Rauswurf eines Euromitglieds nicht mehr auszuschließen. Seither muss bei jedem Investor in Europa die Unsicherheit darüber mitschwingen, ob in dem Land, in dem er investieren will, künftig überhaupt noch der Euro gilt – oder doch wieder eine nationale Währung. Sicherer kann man die Dynamik von Investitionen gar nicht bremsen.
Wenn das stimmt, ist das Ergebnis aus Großbritannien auch für Deutschland eine mittlere Katastrophe. Dann trägt der nahende Brexit dazu bei, die Investitionsrisiken zu potenzieren – und sei es als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Je mehr Unternehmen zögern, desto stärker schwindet die Nachfrage – und damit auch der tatsächliche Anlass, mehr Geld in neue Maschinen und Anlagen zu stecken. Eine gefährliche Abwärtsspirale, die bald auch die Arbeitslosigkeit hochschnellen ließe.
Es gibt Mittel
Umso dringlicher ist es für alle Beteiligten jetzt, so schnell wie möglich zu klären, welchen Status die Briten künftig haben sollen. Und am besten auch wieder zu demonstrieren, dass es keine weiteren Austritte geben soll. Und dafür zu sorgen, dass die Abwarte-Abwärtsspirale bei den Investitionen erst gar nicht an Tempo gewinnt.
Es gibt ein Mittel, das in solchen Zeiten des Abwartens und Zögerns auf Investoren wirkt, auch wenn es ein wenig technisch klingt. Etwa die Möglichkeit für Unternehmen, für eine bestimmte Frist ihre Investitionen beschleunigt abzuschreiben – und damit einiges an Geld zu sparen. Das bringt Unternehmen Vorteile, solange sie sich schnell entscheiden: ein Beschleuniger.
Das hat in den USA nach der Rezession 2001 geholfen, zaudernde Unternehmen zu animieren, etliche Projekte zu entblocken – und die Rezession zu beenden. Ähnlich wie in Deutschland 2006, als Angela Merkel das gleiche Instrument nutzte, um Investitionen und Konjunktur nach Jahren zäher Stagnation zu beschleunigen. Fast vergessen. In Frankreich trägt ein ähnliches Programm derzeit dazu bei, dass die Investitionen stärker zulegen als bei uns. Na sowas. Der Trick könnte auch EU-weit heute mit relativ wenig finanziellem Einsatz Wunder wirken – und den Brexit-Absturz verhindern.
Wenn die Europäer ihrer Union etwas Gutes tun wollen, sollten sie da noch etwas drauf legen: Warum nicht die Idee aufgreifen, jedem EU-Europäer (der noch Mitglied ist) einen Scheck zu schicken, der nur gegen den Kauf von Waren einlösbar ist, die das Klima schonen – von besonders CO2-armen Kühlschränken über Solarzellen bis hin zu Elektroautos. Auch das könnte einen nennenswerten Beitrag leisten, um in unsicheren Zeiten einen Kaufstreik zu vermeiden. Und den einen oder anderen, der an Europa gerade zweifelt, gütiger zu stimmen.
Klar: Es gibt in nächster Zeit noch eine Menge große Fragen zu klären – ob und wie die EU weitermachen will. Darauf kommen wir noch zurück. Davor gilt es nach dem Schock des 24. Juni 2016 aber, erst einmal die akute konjunkturelle Absturzgefahr zu bannen. Und: Vielleicht führt das die einen oder anderen ja auch wieder zusammen.
Sollte es den EU-Regierenden gelingen, die Konjunktur zu stützen und das auch die meisten Menschen (per Scheck) spüren zu lassen, wäre das womöglich auch ein erster Schritt zu widerlegen, dass Europa zwingend nur Bürokratie, die Vereinheitlichung unsinniger Sachen und das ständige Nölen über die Finanzpolitik anderer bedeutet. Die Zeit drängt.
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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).