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Thomas Fricke: Schäubles Steuerpolitik – Die schwarze Null widerspricht dem Geist des Grundgesetzes

10. Juli 2016

Finanzminister Schäuble zelebriert den ewigen Haushaltsausgleich mit knappem Plus. Dabei steht nirgendwo, dass er das so machen soll. Im Gegenteil.

Wenn es um die Finanzen geht, kennt Wolfgang Schäuble keine Gnade. Jurist ist Jurist. Da zählt, was im Gesetz steht. Und in den europäischen Verträgen samt Schuldenbremsen und ähnlichen Zusätzen mit Verfassungsrang. Regel ist Regel. Damit faltet Herr Schäuble humorlos aufmüpfige griechische Motorradfahrer mit Kurzzeitjob als Kassenwart zusammen, ebenso wie jeden ordnungswidrig handelnden Kollegen aus anderen Süd- und aus Bundesländern.

Umso erstaunlicher ist, wie freizügig Schäuble mit Gesetz und Verträgen umgeht, wenn es um die eigene heilige Regel für den Bundeshaushalt geht. Dass es eine „schwarze Null“ (SN) sein soll, zumal Jahr für Jahr, steht nicht in der Schuldenbremse noch sonst wo im Grundgesetz, noch im EU-Vertrag oder sonst einem juristisch belastbaren Regelwerk, nicht mal in den zehn Geboten. Ist so. Und es könnte auch einen guten Grund haben, dass in der Weltgeschichte noch niemand auf die Idee gekommen ist, ein Gesetz zu machen, in dem es heißt, dass der Finanzminister bis ans Ende aller Tage jedes Jahr immer etwas mehr einnehmen als ausgeben soll. Warum nicht viel mehr? Rosa Null. Oder etwas weniger? Zart-rot. Oder farblos.

Richtig ist, dass laut Schuldenbremse die Haushalte „grundsätzlich“ ohne Kredit finanziert werden sollten – und es „strukturell“, also im längerfristigen Schnitt, einen einigermaßen ausgeglichenen Etat geben sollte. Nur ist erstens selbst längerfristig ein leichtes Minus vorgeschrieben, also eher eine „rote Null“. Und zweitens soll der Ausgleich eben gerade nicht Jahr für Jahr erzwungen werden.

Die Mütter und Väter unserer Schuldenbremse haben sogar ziemlich schlau festgelegt, was – je nach Lage und Umständen – in einem Jahr angemessen ist, und im nächsten womöglich kontraproduktiv. Gut möglich, dass es uns in Zeiten des Brexit-Schocks bald teuer kommt, einen Finanzminister zu haben, der sich genau daran nicht halten will. Vor lauter SN-Fetisch. Alle Erfahrung zeigt, dass der Haushalt eines Staates enorm davon abhängt, wie gut oder schlecht die Konjunktur gerade läuft – anders als der von Tante Erna. Läuft es gut, kommen rasch viel mehr Steuern rein, und die Ausgaben für das Arbeitslosengeld sinken. Da braucht der Finanzminister gar nicht viel zu machen, außer die Hand aufzuhalten.

Die Finanzminister sollen auf die Konjunktur achten

Nach einer groben Faustregel sinkt das Staatsdefizit automatisch um einen halben Prozentpunkt, wenn die Wirtschaft um einen Prozentpunkt schneller wächst als üblich. Entsprechendes gilt umgekehrt zum Negativen. In der Rezession steigen die Fehlbeträge, schon wegen der einbrechenden Steuereinnahmen. Und alle Erfahrung lehrt auch, dass es wenig bringt, wenn ein Finanzminister dann heillos gegenzusteuern versucht und in der Rezession Steuern anhebt oder Ausgaben kürzt. Dann wächst die Wirtschaft in aller Regel nur noch langsamer – was zu noch höheren Defiziten führt.

Genau deshalb steht in der Schuldenbremse auch nichts davon, in jedem Jahr wie stoisch leicht überschüssige Etats anzusteuern. Die Finanzminister sind im Gegenteil angehalten, auf die Konjunktur zu achten und sich auf die strukturellen Trends zu konzentrieren. Sprich: wenn es schlecht läuft, muss man auch einmal hinnehmen, dass sich die Staatsfinanzen konjunkturbedingt verschlechtern. Steht so im Gesetz. Und: Wenn es übermäßig gut läuft, sollten die hohen Überschüsse (rosa Null) auch nicht gleich verfüttert, sondern Schulden damit abgebaut werden. Da ist eine schwarze Null ebenso unsinnig. Im Schnitt darf laut Schuldenbremse sogar ein strukturelles Defizit bleiben – um Investitionen in die Zukunft (vor-)zu finanzieren.

Die Anarcho-Null droht zum Drama zu werden

Die Sache ist hoch relevant. Nach den Buchstaben des Gesetzes hätte Wolfgang Schäuble in den vergangenen, konjunkturell teils turbulent-schwächelnden Zeiten gar keine schwarze Null ansteuern müssen, sondern (konjunkturgerecht) eher eine rote. Um die Wirtschaft nicht noch zusätzlich zu belasten. Das halten selbst die eher orthodoxen Ökonomen aus den führenden Forschungsinstituten dem Minister seit Jahren vor. Enorm: „Der Bund hätte zwischen 2009 und 2015 bis zu 150 Milliarden Euro mehr ausgeben oder weniger Steuern eintreiben können“, sagt Gustav Horn vom Düsseldorfer IMK-Institut. Macht immerhin fünf Prozent der Wirtschaftsleistung. Und es ist ja nicht so, als gäbe es nicht genug Bedarf, im Land verfassungstreu Geld auszugeben. Davon könnten wir glatt noch ein paar Millionen Flüchtlinge willkommen heißen (ok, blöder Scherz).

Hätte der Minister das Potenzial genutzt, hätten wir heute viel weniger Grund darüber zu klagen, dass wir zu wenig Polizisten, Lehrer oder tragfähige Brücken haben. Wir hätten auch eine sehr viel solider laufende Konjunktur – die dem Finanzminister auf Dauer auch viel solidere Etats garantieren würde, als es das jährliche Hangeln von einem leicht überschüssigen Haushalt zur nächsten schwarzen Null tut. Dass das Geld nicht ausgegeben wird, lag übrigens auch an der SPD (das ist die Partei, deren Vorsitzender so viel gegen Austerität schimpft).

Die heilige Schäuble-Null und der Eintrag in die Geschichtsbücher

Schlimm genug. Zum wirklichen Drama droht die Anarcho-Null in den kommenden Monaten zu werden – wenn die Brexit-Schockwellen mit dem nahenden Bundestagswahlkampf zusammentreffen. Noch ist unklar, ob und wie stark der Schock von der Insel auch die deutsche Wirtschaft treffen wird. Das IMK-Institut hat seine Konjunkturprognose bereits revidiert. Sollte die Wirtschaft deutlich schwächer wachsen als bisher veranschlagt, werden dem Finanzminister schnell die Einnahmen wegbrechen. Siehe oben.

Dann könnte Schäuble schnell vor der Frage stehen: entweder diese konjunkturbedingten Ausfälle hinzunehmen, wie es Gesetz und Verfassung fordern – und sich kurz vor der Bundestagswahl damit vom Ziel der schwarzen Null zu verabschieden. Oder hektisch Ausgaben zu kürzen und Abgaben zu erhöhen, um bloß die heilige Schäuble-Null und den Eintrag in die Geschichtsbücher zu halten – und damit gegen das Gesetz der schlauen Schuldenbremse zu verstoßen. Outlaw Schäuble? Was tippen Sie?

Die Beamten im Ministerium versuchen die Sache bisher schön gesetzeskonform zu deuten: die Schuldenbremse gebe ja lediglich Obergrenzen für das Defizit an. Naja. Nur macht das Ganze dann natürlich keinen Sinn. Wenn es dem Geist der Schuldenbremse entspricht, darauf zu achten, in mäßigen Zeiten nicht mehr als unbedingt nötig zu sanieren, dann darf man in mäßigen Zeiten eben auch nicht mehr als nötig (kaputt-)sparen. Dann hätte zumindest ein großer Teil der übererfüllten 150 Milliarden Euro genutzt werden müssen, um endlich wichtige staatliche Investitionen zu machen. Weil das sonst kein nachhaltiges Sanieren ist. Und um die Regeln dem Geiste nach auch einzuhalten.

Marketing für den Finanzminister

Vielleicht wirkt es im Volk beruhigend, wenn ein Finanzminister regelmäßig SN-Haushalte meldet (wobei wir uns natürlich schon Gedanken darüber machen könnten, was es über die kollektive Seelenlage aussagt, wenn wir jemanden anhimmeln, der eine „schwarze Null“ macht). Und: man mag es auch blöd finden, die Sanierung der Staatsfinanzen so stark von der Konjunktur abhängig zu machen – in schlechten oder stark wackeligen Zeiten wie jetzt weniger, in richtig guten dafür umso mehr zu konsolidieren. So steht es aber nun einmal im Gesetz.

Das kann man ändern, wenn sich die Grundlage fundamental wandelt oder es neue Erkenntnisse gibt. Gibt es aber nicht. Nicht so gut ist, es einfach zu übergehen, weil sich eine „schwarze Null“, die nirgendwo steht, plötzlich als Marketing für den Finanzminister eignet. Zumal für einen, der gern andere nervt, wenn sie – teils aus guten Gründen – mal eine Regel nicht einhalten.

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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

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