Thomas Fricke: Konjunktur und Krise – Deutschland, rette dich!
Soll der Staat die Konjunktur anschieben, wie internationale Experten fordern? Das sei nicht im nationalen Interesse, kontern deutsche Ökonomen. Sie irren.
Es gab Zeiten, da kam die Kritik vor allem von Nobelpreisträgern. Jetzt drängen auch einst hochorthodoxe Gralshüter wie der Internationale Währungsfonds, die OECD und die EU-Kommission: Die Deutschen sollten ihre Konjunktur endlich stärker anschieben. Und: Je lauter die Rufe werden, desto verzweifelter wirken die hiesigen Konter.
Ganz neu im Argumentekatalog: Es sei halt nicht im nationalen Interesse, die Konjunktur weiter anzukurbeln – weil die Wirtschaft hier ohnehin schon gut laufe und ansonsten zu überhitzen drohe. Tut uns leid. Wir würden ja gern helfen.
Jetzt könnte man darüber hinwegsehen, dass das hier etwas geschwindelt wird – weil dieselben Berater, die anno 2016 so eine neue Nationalinteressen-Ökonomie beschwören, in der Regel auch sonst nicht zur Hilfe raten. Sollen die Krisenländer zusehen, wie sie da selbst rauskommen. Und wir könnten die Frage auch übergehen, ob wir als große Exportnation so tun sollten, als würde uns der Rest der Welt egal sein – wenn unsere Verkäufe ins Ausland fast die Hälfte unseres Bruttoinlandsprodukts ausmachen.
Wirklich heikel wird es bei der populär-ökonomischen Diagnose, uns geht es doch schon so gut, dass noch mehr Konjunktur nur schaden würde. Dahinter könnte eine Menge Übermut und Selbstüberschätzung stecken. Und ein kurioses Verständnis von Konjunktur und Fortschritt.
Natürlich entwickelt sich die deutsche Wirtschaft schon seit einigen Jahren ohne große Krisen. Die Beschäftigung steigt, es gibt wenige Meldungen von Entlassungswellen. Und in der Bauwirtschaft boomt es tatsächlich. Nur heißt das nicht, dass die ganze Wirtschaft nicht noch mehr kann.
Kein Exzess in Sicht
Wenn die Konjunktur in Deutschland zu überhitzen drohte, müssten sich nach aller Erfahrung die Frühwarnsignale längst mehren – müssten also Löhne, Preise und Zinsen stark anzuziehen beginnen. Und die Auslastung der Kapazitäten müsste lange über Normalwert liegen. Nichts davon ist zu beobachten.
Je nach Rechnung sind die Firmen im Land gerade einmal so ausgelastet, wie sie es im Schnitt der vergangenen – oft schwachen – Jahre waren. Was auch erklärt, warum sie gar nicht so viel Spielraum haben, ihre Preise zu erhöhen. Die Inflation liegt mit rund einem Prozent auf historischen Tiefstwerten, selbst wenn man die gefallenen Energiepreise herausrechnet. Ähnliches spiegelt sich in den niedrigen Zinsen, die nicht nur wegen der Notenbanken niedrig sind, sondern auch, weil eben ziemlich wenig Kredite nachgefragt werden.
Auch was die – wieder stärker steigenden – Löhne angeht, ist kein Exzess auszumachen. Im Gegenteil. Nach Diagnose der Experten vom Kieler Institut für Weltwirtschaft steigen die effektiven Löhne selbst nach Jahren stark sinkender Arbeitslosigkeit noch langsamer, als es ein Ausgleich für Inflation und Produktivitätsfortschritt legitimieren würde.
Der schöne Aufschwung trügt
Diese Befunde werden auch durch Unkenrufe kaum erschüttert, wonach sich all das ja ändern könnte. Das prophezeien deutsche Stabilitätsapostel schon seit Jahren. Und es tritt nicht ein. Womöglich gibt es Gründe, hier entspannt zu sein und vorerst zu bleiben.
Wenn jedwede Überhitzung bisher ausblieb, könnte das auch damit zu tun haben, dass der schöne Aufschwung in Teilen trügt. Zur Zwischenbilanz gehört nämlich auch, dass die deutsche Industrie seit Jahren de facto stagniert und heute nicht mehr Aufträge bekommt als vor der großen Finanzkrise 2008.
Ein verlorenes knappes Jahrzehnt – und mit hoher Wahrscheinlichkeit die Folge einer seit Jahren eher schwindenden Globalisierung. Oder dass in Deutschland heute weniger Stunden gearbeitet werden als vor 25 Jahren. Oder dass trotz guter Lage noch 2,7 Millionen Leute ohne Arbeit sind – und es viele gibt, die gern mehr arbeiten würden.
Ohne Investitionen erodiert die Basis für künftigen Wohlstand
Noch bedenklicher ist: Die Wirtschaft hat im laufenden Aufschwung alles in allem so gut wie kein zusätzliches Geld im Land investiert. Auch das hätte zu einem normalen Fortschritt längst dazugehört. Tatsächlich stecken die Unternehmen dieses Jahr fast drei Prozent weniger in neue Anlagen und Ausrüstungen als vor der Finanzkrise.
Zieht man die Abschreibungen ab, lagen die (Netto-)Investitionen 2015 noch bei 47 Milliarden Euro – macht 1,6 Prozent der Wirtschaftsleistung. Im Aufschwung Anfang der Neunzigerjahre investierten die Unternehmen gut dreimal so viel. Obwohl Kredite heute fast umsonst zu haben sind. So zögerlich haben sich Unternehmen selten auf die Zukunft vorbereitet.
Es hat etwas umso Fahrlässigeres zu lamentieren, die Deutschen könnten nicht noch mehr. Und dass das auch gar nicht im nationalen Interesse sei. Ohne Investitionen erodiert die Basis für künftigen Wohlstand. Und: Wenn seit Jahren hierzulande so wenig in Neues investiert wird, liegt das nach Einschätzung der Kieler Ökonomen zu einem Großteil an der hohen Unsicherheit, die via diverser Krisen in wechselnden Regionen der Welt herrscht und hiesige Investoren zögern lässt – über Euroturbulenzen, China-Abstürze oder neuen Populismus. Macht es klick? Dieser Befund allein führt das Argument vom einsamen deutschen Nationalinteresse ad absurdum.
Wenn die gefährliche historische Schwäche deutscher Investitionen (auch) mit dem Kriseln anderer Länder zu tun hat, ist es nach Adam Riese schlicht und einfach im deutschen Interesse, alles Mögliche zu tun, um das Kriseln der Anderen zu beheben. Zumal als größte Volkswirtschaft in Europa. Und dann ist es im Interesse aller, unsere Konjunktur noch ein ganzes Stück zu stärken.
Her mit dem Konjunkturschub
Es wäre gut, wenn der eine oder andere deutsche Volkswirt wieder Ökonomie betriebe statt zweifelhafte Nationallehre. Ganz in unserem eigenen Interesse. Und dem aller anderer noch dazu. Wirklich wichtig ist eher die Frage, wie so ein Konjunkturschub bewerkstelligt werden kann. Hier liegt die eigentliche Herausforderung. Wir kommen darauf zurück.
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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).