David Milleker: Demographie und Zins: Die Realität entspricht nicht dem Standardmodell
Rund um das Jahr 2020 wird die entwickelte Welt, aber auch China, in Sachen Bevölkerungsentwicklung eine wichtige Marke passieren. Das Bevölkerungswachstum kommt in Nordamerika zum Erliegen, in Europa setzt eine Schrumpfung ein, und in China wird die letzte Generation vor Beginn der Ein-Kind-Politik das Rentenalter erreichen. Somit wird ein beträchtlicher Teil der Welt in demographischer Hinsicht dort angelangen, wo sich Japan bereits seit der Jahrtausendwende befindet.
Japan mag nicht unbedingt das angenehmste Vorbild sein, wenn man sich die wirtschaftliche Dynamik anschaut. Man sollte jedoch die dort gemachten Erfahrungen mit dem demographischen Wandel durchaus ernst nehmen, wenn man sich überlegt, in welcher Welt wir in einigen Jahren leben könnten.
Zunächst einmal zu den positiven Seiten Japans: Trotz schwacher gesamtwirtschaftlicher Aktivität („verlorene Dekaden“) ist der Lebensstandard nicht nur hoch geblieben. Gemessen an der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung oder Produktivität je Arbeitnehmer hat sich Japan seit dem Jahr 2000 keinesfalls schlechter, sondern eher sogar noch ein bisschen besser entwickelt als die anderen G7-Staaten. Es spricht somit viel dafür, dass es nach dem Platzen der Blase im engeren Sinne nur eine „verlorene Dekade“ gab. Das schwache gesamtwirtschaftliche Wachstum seit der Jahrtausendwende lässt sich somit wohl eher über eine schrumpfende Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter denn über andere Faktoren erklären.
Charakteristisch für Japan ist auch das dort schon seit Ende der 1990er Jahre vorherrschende Niedrigzinsumfeld. Damit stellt sich die Frage, ob Japan nicht nur in Sachen Demographie eine Vorreiterrolle spielt.
Zunächst einmal muss man festhalten, dass die japanische Erfahrung eigentlich hinter eine ganze Reihe von ökonomischen Denkansätzen deutliche Fragezeichen setzt. So geht etwa das (neo-klassische) Standardmodell zur Alterung davon aus, dass Rentner in der Tendenz ihre Ersparnis zurückführen (Lebenszyklushypothese) und parallel der auftretende Arbeitskräftemangel durch verstärkten Maschineneinsatz und höhere Investitionen ausgeglichen wird (Substitutionsthese). In der Folge müsste sich das Verhältnis von Ersparnisbildung und Investitionen verschieben und die Zinsen nach oben treiben. Unterstützt sollte dies dadurch werden, dass das Angebotspotenzial tendenziell unter Druck steht, während sich die Nachfrage kaum ändert. Die Rentner fallen ja nicht als Verbraucher aus. In der Folge sollte es tendenziell zu höherer Inflation kommen.
Die japanische Erfahrung scheint eine Paradefalsifikation all dieser Modellkomponenten zu sein. Erstens erweist sich die Lebenszyklushypothese als falsch. Die Sparquote der Rentner ist keinesfalls geringer als die der Erwerbsfähigen. Und obwohl Japan unter den Industrieländern absoluter Vorreiter beim Einsatz von Robotern, etwa auch im Pflegebereich, ist, hat sich parallel zum Alterungsprozess keinesfalls eine deutliche Belebung der Investitionen eingestellt. Ebenso bleibt die Beschleunigung der Inflation hartnäckig aus. Möglicherweise auch deshalb, weil ältere Gesellschaften grundsätzlich eine höhere Aversion gegen Preissteigerungen aufweisen.
Japan ist im demographischen Wandel wesentlich weiter fortgeschritten als die anderen Staaten, denen das in nicht allzu ferner Zukunft ins Haus steht. Man sollte es sich nicht so einfach machen, die dortige Entwicklung als Sonderfall abzutun. Vieles spricht dafür, dass die Entwicklungen seit der Jahrtausendwende dort maßgeblich von der Demographie und weniger von den Nachwirkungen einer geplatzten Blase geprägt waren. Vor allem widerspricht die japanische Erfahrung aber sehr deutlich dem Standardmodell von Alterung und Zinsentwicklung. Und zwar in jeder einzelnen Erklärungskomponente. Entsprechend hoch ist das Risiko, dass sich in wenigen Jahren in der gesamten entwickelten Welt niedrige Zinsen auf Dauer breit machen.
Mit anderen Worten: die Kaufkraft fließt dorthin, wo sie tendenziell nicht mehr ausgegeben wird. Das sind beileibe nicht nur Rentner und Pensionäre, sondern vor allen Dingen unsere Cash hortenden Unternehmen…Und da beisst sich die sprichwörtliche Katze in den Schwanz:
warum real investieren, wenn die Konsumbereiten nicht können -die deutschen Arbeitnehmer werden schon lange nicht mehr real am Produktivitätszuwachs beteiligt -und die Konsumfähigen nicht wollen…