Thomas Fricke: Schuldenkrise – Wie die Deutschen Europas Ruf ruinieren
Europas neue Haushaltspläne nähren eine bizarre deutsche Schuldenhysterie. Dabei haben die EU-Staaten im internationalen Vergleich geradezu vorbildlich geringe Staatsdefizite. Vielleicht sogar zu geringe.
Das Urteil scheint gefällt: In Europa hält sich keiner mehr an Regeln, die Schulden steigen immer weiter – das Ende ist nah. So tönt es seit Jahren aus deutschen Denker- und Apostelstuben. Und so tönte es auch in diesen Woche, als in Brüssel die Haushaltspläne der Europartner für 2017 gesammelt wurden und schon wieder welche die Limits nicht einhielten. Tenor: Euro-Untergang – und nur noch eine Frage der Zeit, wann die Investoren aus Schuldeneuropa fliehen.
Zeit, die Sachen zu packen? Die Frage ist nur: wohin, liebe Investoren? In die Vereinigten Staaten von Amerika, wo das Staatsdefizit gemessen an der Wirtschaftsleistung dieses Jahr höher sein wird als in Griechenland? Und noch viel höher steigt, wenn Dollar-Donald Präsident wird und seine Multimilliarden-Versprechen umsetzt. Oder zu den Briten auf die Insel, wo, naja, das Defizit bei 3,3 Prozent liegt? Tendenz steigend, der Brexit kostet. Nach Japan? Defizit über fünf Prozent. Indien? Sechs. Brasilien: zehn. Hilfe!
Die Staatsschuldenkrise kam nach der Bankenkrise
Im Ernst: Das hat schon etwas hoch Surreales. Ja, es gibt in Europa eine Menge Fälle, in denen die anno dazumal fixierte Obergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts übertroffen wurde. Und das wäre in Normalzeiten gar nicht gut. Nur kommt das ganze Regelwerk eben auch aus schönen alten Zeiten, lange vor der Finanzkrise. Und da darf man auch mal fragen: Was habt ihr denn erwartet, wie sich Staatsfinanzen entwickeln, wenn eine Jahrhundertkrise samt Börsen- und Immobiliendesastern wütet und noch Jahre später (selbst deutsche) Monsterbanken mit der Bilanzsumme ganzer Volkswirtschaften zu kippen drohen; und ganze Volkswirtschaften gerettet werden müssen, weil sie in den Sog einer verselbständigten Finanzpanik geraten?
Die Staatsschuldenkrise kam ja nach der Bankenkrise – nicht umgekehrt. Das ist vom Anspruch etwa so, als würde man einen Leichtathleten schimpfen, wenn er drei Wochen nach dem Muskelfaserriss noch nicht wieder Bestzeit läuft. So etwas dauert.
Fakt ist, dass die Europäer in den vergangenen Jahren eifriger Defizite abgebaut haben als so ziemlich alle anderen regierenden Lebewesen auf unserem Planeten. Im Schnitt liegen die Staatsdefizite im Euroraum 2016 bei gerade noch zwei Prozent – und selbst ohne die Deutschen noch deutlich unter drei Prozent. Das ist ein Drittel weniger als im Schnitt aller OECD-Industrieländer. Und die Hälfte des US-Defizits. Unter allen größeren Ländern hat keines ein geringeres Minus im laufenden Etat. Auch beim Vergleich der angehäuften Gesamtschulden stehen die Europäer nicht schlechter da als Amerikaner und (erst recht) Japaner.
Vielleicht ist es ja im Gegenteil kein Zufall, dass die Europäer beim Defizitabbau ebenso vorn liegen, wie sie beim Wirtschaftswachstum international hinten sind. Immerhin haben fast alle Länder mit höheren Defiziten auch ein höheres Wachstum. Was nicht heißt, dass das eine das andere allein erklärt – und dass besagte Länder nicht früher oder später auch von ihren Defiziten runterkommen müssen. Nur geht das womöglich einfacher, wenn die Wirtschaft einmal läuft – und erst dann umso strikter saniert wird.
Da hilft auch der Verweis auf unseren Sonnenkassenwart wenig. Wolfgang Schäuble hat ja auch nur deshalb so scheinbar locker eine schwarze Null geschafft, weil er dank krisenbedingt niedriger Zinsen auf deutsche Staatsanleihen dreistellige Milliardensummen gespart hat. Deshalb brauchten wir auch keine großen Kürzungsorgien.
Und zum Glück sind nicht alle auf der Welt der Empfehlung gefolgt sind, rabiat die Haushalte zu sanieren. Oder glaubt jemand, die deutsche Wirtschaft könnte heute auch nur ansatzweise so viel mehr nach Amerika verkaufen als noch 2010 (plus 74 Prozent), wenn Barack Obama dort eine Kürzungs- und Steuererhöhungsorgie wie die Griechen gemacht hätte?
Wenn Europa etwas falsch gemacht hat, dann war es weniger, überholte Regeln nicht pedantisch einzuhalten (zumal die Regeln längst auch die nötige Flexibilität ermöglichen) – sondern hier und da zu viel auf schnelle und kurzsichtige Sanierung zu setzen. Die Frage muss dann umgekehrt lauten: Würde es den Europäern wirtschaftlich nicht womöglich sogar besser gehen, wenn sie nicht so eifrig dafür gesorgt hätten, heute an der internationalen Spitze der Niedrigdefizitregionen zu stehen?
Über die Antwort mag man streiten, klar. Unsinn ist nur, die Europäer finanzpolitisch schlechter zu reden, als sie sind. Sonst heißt es am Ende noch: Wer mit uns netten Deutschen eine Währungsunion macht, braucht keine Feinde mehr. Zumindest nicht, wenn es darum geht, immer jemanden zu haben, der die Lage solange schlecht redet, bis sie tatsächlich schlecht wird.
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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).