Der Deutsche ist gerade, sagen wir, nicht ganz einfach zu verstehen. Da macht der Staat die höchsten Überschüsse seit einem Vierteljahrhundert. Die Wirtschaft schafft Arbeitsplätze wie Brötchen. In Umfragen berichten viele, sie hätten relativ wenig Angst, ihren Job zu verlieren. Und was macht der Deutsche? Läuft plötzlich diesem Schulz hinterher, der behauptet, dass es alles nicht gerecht zugeht und wir dringend eine neue Regierung brauchen. So was!
Jetzt ist es nicht ganz so verwunderlich, dass Vertreter der amtierenden Regierung mütterlicherseits das nicht so toll finden. Der Mann rede das Land schlecht – und sei ja so wie Trump (aktuell die höchste Minuswertung für politische Gegner). Die Frage ist trotzdem, warum Schulz so gut ankommt. Ist der Deutsche doch nicht so glücklich? Und sind wir doch nicht so anders als die wütenden Amerikaner? Dann wäre die Frage eher, ob wir daraus die besseren Schlüsse ziehen.
Es gibt keine „ausgeprägte Wechselstimmung“
Noch vor ein paar Wochen lautete eine hierzulande gängige Deutung, dass die Deutschen eben anders seien als die Amerikaner. Von einer „echten Vertrauenskrise“ sei bei uns nichts zu erkennen, analysierten die Forscher vom Institut für Demoskopie Allensbach. Nach den Umfragen stufte Ende 2016 mehr als jeder zweite Deutsche seine wirtschaftliche Lage als gut bis sehr gut ein – ein historisch hoher Wert. Gut die Hälfte finde (anders als offenbar die Amis) auch, dass die Globalisierung Vorteile für die Wirtschaft bringe. Wenn es Unmut gebe, liege das an den Flüchtlingen. Fazit: Es gibt keine „ausgeprägte Wechselstimmung“.
Diese Aussage stammt vom 26. Januar. Drei Tage später kürte die SPD Martin Schulz und startete zum Höhenflug. Seitdem orakeln die Politauguren über Wechselstimmung im Volk.
Jetzt ist es nüchtern betrachtet nicht so plausibel, dass Schulz die rundum glücklichen Deutschen in nur wenigen Tagen mit einem schlimmen Schlechtelaunevirus infiziert hat – und plötzlich Millionen im Grunde zufriedene Menschen fehlgelenkt eine neue Regierung wollen. Unwahrscheinlich wirkt seither auch, dass alle Unzufriedenheit im Land gar nicht wirtschaftlich bedingt ist, sondern kulturell und (noch) mit den Flüchtlingen zu tun hat. Das ist ja nicht Schulz‘ Thema und kann auch seinen Höhenflug nicht erklären. Nach den Umfragen bereitet „die Flüchtlingssituation“ derzeit auch nur noch einem Drittel der Deutschen „große Sorgen“ – vor einem Jahr noch fast jedem zweiten.
Das könnte auch erklären, warum bei der Alternative für Deutschland der vermutete Trump-Rückenwind ausblieb und die FDP mit ihrem plumpen Ausflug ins Fremdkultur- und Griechen-Bashing keinen Schulz-Effekt hinkriegt.
Bei näherem Hinsehen bieten die Umfragen dabei Indizien, das Schulz-Hoch zu erklären. So stufen zwar fast 80 Prozent der Menschen mit hohem Einkommen und Vermögen die eigene Wirtschaftslage heute als sehr gut oder gut ein – in den unteren Schichten aber nicht einmal jeder Dritte. Der Anteil ist damit nicht einmal zehn Punkte höher als 2006. Damals lag die Arbeitslosenzahl noch bei fast fünf Millionen. Mehr als zwei Drittel der Deutschen stehen nach eigenem Empfinden heute nicht besser da als vor fünf Jahren. Ein Drittelchen-Aufschwung.
Selbst in Sachen Globalisierungszweifel scheinen die Deutschen tatsächlich nicht so weit entfernt von den Amerikanern. Zwar überwiegt bei uns der Anteil der Menschen, die durch das weltweite Wirtschaften eigene Vorteile sehen, den Anteil derer, die es als Nachteil empfinden. Die Quote liegt aber bei gerade 28 Prozent, weil weit mehr als die Hälfte der Befragten sich nicht entscheiden konnten oder keine Angaben machten – und das in einem Exportland, das vor Glück über rasant gewachsene Weltabsatzmärkte eigentlich platzen müsste. Und in dem es (auch) dank Billigimporten aus aller Welt seit Langem keine richtige Inflation mehr gegeben hat.
40 Prozent der Menschen haben geringeres Realeinkommen als 1999
Gemessen an gängigen Makrodaten mag all das postfaktisch wirken: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, und selbst die Löhne legen im Schnitt wieder zu. Es spricht nur einiges dafür, dass solche Standarddaten über das eine oder andere Phänomen hinwegtäuschen – und all die Deutschen gar nicht so falsch liegen, die über die Wachstumsraten der Gesamtwirtschaft nicht so recht ins Schwärmen kommen.
Wie Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kürzlich auswerteten, haben sage und schreibe 40 Prozent der Menschen im Lande heute spürbar weniger Realeinkommen als 1999 – und nicht mehr als vor 25 Jahren. Trotz Aufschwung. Bei zwei von fünf Deutschen muss umso befremdlicher klingen, dass es „den“ Deutschen angeblich „so gut wie lange nicht“ geht. Zum Vergleich: seit 1991 haben sich die Einkommen von Aktienbesitzern gemessen am Deutschen Leitindex Dax im Schnitt verachtfacht (Anfang 1991 rund 1500 – heute rund 12.000 Punkte). Glückwunsch. Bei denen in der Mitte kam auch nicht viel dazu – dafür stieg die Wahrscheinlichkeit, sozial abzusteigen.
Da hilft auch der bemühte Hinweis wenig, dass sich das Gefälle zwischen den Lohneinkommen wieder verringert, seit die deutsche Wirtschaft 2005 ihre langjährige Stagnation überwunden hat. Wäre ja noch schöner. Das Ding ist, dass damit nur ein kleiner Teil des dramatischen Zuwachses an Ungleichheit in den beiden Jahrzehnten zuvor wieder rückgängig gemacht wurde. Das hat Folgen.
Mag sein, dass viele unterschätzen, wie viel uns als Exportnation die Globalisierung gebracht hat. Aber auch hierzulande hat der Billigwettbewerb eine Menge Verlierer hervorgebracht – all jene nämlich, die unter dem Druck auf Lohnzuwachs seit Jahren verzichten müssen; oder deren Arbeitsplätze nach Osteuropa oder Asien verlagert wurden. In den USA konnten diese Verluste viel weniger durch Exportgewinne kompensiert werden, weil die Amerikaner viel mehr importieren als sie exportieren. Das ist bei uns umgekehrt – und lässt die Kehrseiten weniger akut erscheinen.
Großkonzerne, die keine Steuern zahlen, Steuerzahler, die Banken retten
Der Haken daran: Auf Dauer geht das nicht gut. Es können ja nicht alle immer mehr im Rest der Welt verkaufen, als sie dort kaufen. Egal, ob jetzt Trump mit Strafzöllen kommt. Oder der Exportüberschuss auf andere Art schrumpft.
Mehr noch: Auch hierzulande registrieren die Menschen, welche Absurditäten eine allzu unkontrollierte Globalisierung in den vergangenen Jahrzehnten mit sich gebracht hat – ob Finanzkrisen, in denen Steuerzahler Banken retten müssen, oder Großkonzerne, die keine Steuern zahlen. Da hilft es wenig, wie benommen die (unbestrittenen) Vorteile der Globalisierung herunterzubeten.
Es spricht eine Menge dafür, dass all das am Schulz’schen Höhenflug gerade mitwirkt. Dahinter steckt mehr als nur ein postfaktisches Gefühl. Unsere Wahlkämpfer haben in den kommenden Monaten die Chance, über gute Vorschläge gegen absurde Dinge zu streiten, über Konzepte für schrumpfende Ungleichheit und eine bessere Globalisierung. Sie können zeigen, dass man deswegen nicht gleich einen Trump wählen muss. Das wäre besser, als sich gegenseitig mit Behauptungen zu überbieten, wer nun am ehesten so wie Trump ist.