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Thomas Fricke: Streit über Agenda 2010 – Wo Schulz beim Arbeitslosengeld falsch liegt

10. März 2017

Die Kappung des Arbeitslosengelds hat bei den Deutschen einst einen Schock ausgelöst – und große Angst verbreitet. Nun fordert SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz Korrekturen. Seine Vorschläge helfen nur bedingt.

Vor Kurzem war die Erklärung noch in Mode: Wenn es im Volk so viel Unmut gibt, liegt das vor allem an diesen links-liberalen Eliten, die den normalen Menschen zu viel Multikulti und so vorsetzen. Und nicht verstehen, was die normalen Leute wollen. Weg mit denen. Logisch.

Jetzt kommt Martin Schulz und redet über ganz andere Probleme – und seitdem wird man den Verdacht nicht los, dass es plötzlich so eine Art Verständnismangel bei den, wie sollen wir sagen, rechts-liberalen Eliten gibt. Tenor: Da haben wir in Deutschland so schön reformiert, so viele Arbeitsplätze und so wenig Schulden – und was macht das Volk? Ist unzufrieden. Die Leute soll man verstehen. Undankbar!

Bei Volksverständnisproblemen helfen wir natürlich gern. Kann ja sein, dass auch unsere eher etwas konservativeren Eliten dem einen oder anderen Teil des Volks noch größere Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen könnten – was auch auf die Sache mit der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld zutrifft.

Gut möglich, dass Schulz hier viel stärker ein menschliches wie realökonomisches Problem anspricht, als es das laute Schimpfen über angeblich rückwärtsgewandte Politik vermuten lässt; deshalb muss man ja nicht gleich die ganze Agenda absagen.

Allerdings trifft der SPD-Kandidat mit seinen Vorschlägen nicht den Kern des Problems. Da ließe sich von der langjährigen Praxis der – angeblich so gnadenlosen – Amerikaner einiges lernen, um die Vorschläge zu verbessern.

Viel spricht dafür, dass es zu den tatsächlich größten psychologischen Schocks der Agenda-Zeit gehörte, dass Ältere sehr viel schneller auf Hartz-IV-Level abstürzen können. Schließlich dürften auch die Jüngeren nach den üblichen biologischen Gesetzmäßigkeiten früher oder später eben auch in die Lage kommen, älter als 50 Jahre zu sein.

Diese Angst war im Zweifel ja auch gewollt. Es ging darum, die Ansprüche im Land zu mäßigen, nicht nur bei den Älteren. Selten sind die Löhne in Deutschland im Gesamtschnitt so stark hinter dem zurückgeblieben, was erwirtschaftet wurde und zu verteilen war, wie im Jahr nach Kappung des Arbeitslosengelds. Angst macht fügig.

Nach gängigem Verständnis wurde die Bezugsdauer dereinst vor allem in der Annahme verkürzt, dass ein nennenswerter Teil der Arbeitslosen dem Staat zur Last liege, weil es zu wenig Druck gebe – und die Leute, na ja, irgendwie zu faul seien. Hier beginnt das tiefere Verständnisproblem.

Klar gibt es auch Menschen, die nicht arbeiten wollen. Nur ist das nach aller Erfahrung der kleinere Teil. Und bei denen hilft oft auch kein Druck mehr. Nach Schätzungen von Ökonomen aus den USA und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) führt eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes um einen Monat im Schnitt dazu, dass die Menschen je nach Alter zwei bis fünf Tage länger ohne Beschäftigung bleiben. Kein wirklich schlagender Beleg dafür, dass es so viele gibt, die sich dann gleich auf die faule Haut legen.

Was bringt es, Leuten Druck zu machen, wenn sie gar keine Chance haben?

Wenn das stimmt, war es in mehrerlei Hinsicht irre, die Bezugsdauer just in dem Moment zu kürzen, als es in Deutschland Anfang 2006 fast fünf Millionen Arbeitslose gab. Die gab es ja nicht, weil plötzlich fünf Millionen Deutsche von einem Ich-will-nicht-arbeiten-Virus befallen waren, also zwei Millionen mehr als gerade noch drei Jahre vorher. Sondern weil die Firmen einfach keine Jobs anboten. Was in aller Regel auch nicht an den (älteren) Leuten lag. Sondern daran, dass die Konjunktur seit Jahren katastrophal lief, die Regierung überall kürzte, die Mark viel zu teuer in den Euro aufgegangen war, die Baubranche noch kriselte und das Platzen der New Economy noch nachwirkte.

Was bringt es, Leuten Druck zu machen, wenn sie aus Gründen, die sie selber gar nicht beeinflussen können, gar keine Chance haben, einen Job zu finden? So etwas mögen irrlichternde Ökonomen mit kreativer Modellführung als richtig einstufen – menschlich ist das schwer nachvollziehbar.

Und das gilt anno 2017 noch mehr als damals – auch wenn das in Deutschland weniger spürbar ist: In vielen Ländern sind seit der großen Finanzkrise eine Menge Leute arbeitslos geworden. Nicht weil sie etwas falsch gemacht haben, sondern oft – und indirekt – weil eine Jahrhundertblase an den Finanzmärkten geplatzt ist und Banken wie ganze Länder gerettet werden mussten. Was kann, um im schulzschen Sprech zu bleiben, der 50-Jährige dafür, wenn er wegen der blöden Banken seinen Job verliert?

Seit den irren Krisen der vergangenen Jahre zieht halt auch die alte Lehrformel nicht mehr so gut, wonach die wirtschaftlichen Probleme vor allem darin liegen, dass das gemeine Volk zu hohe Ansprüche hat – und wir alle ein bisschen mehr Druck brauchen. Altherrenökonomie.

Deshalb ist es in besseren Zeiten umgekehrt ebenso unsinnig, pauschal länger Hilfen und Stützen zu zahlen, wie das Martin Schulz vorhat. Je länger Arbeitslose aus dem Job raus sind, desto schwieriger wird es – und desto vorsichtiger werden Arbeitgeber. Je besser die Konjunktur läuft, desto dringender werden auch neue Arbeitskräfte gebraucht. Bei einer Million offener Stellen ist es sinnvoll, für schnellen Wiedereinstieg zu sorgen.

Vorbild USA

Eine ökonomisch wie menschlich bessere Lösung könnte deshalb auch darin liegen, die Regeln an die Wirtschaftslage anzupassen. So wie es die US-Amerikaner seit jeher de facto tun. In Normalzeiten kriegen Arbeitslose dort rund sechs Monate Unterstützung – wohlwissend, dass Regierung und Notenbank in Amerika sehr viel mehr Geld aufwenden als bei uns, um für Normalzeiten zu sorgen. In schlechten Zeiten kann die Regierung die Bezugszeit dafür deutlich verlängern, so wie es Barack Obama zuletzt in der Rezession der Jahre 2008 und 2009 gemacht hat.

Eine solche Regel hat gleich auch doppelten ökonomischen Nutzen. Wenn es in der Krise länger Unterstützung gibt, können die Leute stärker die Gelegenheit nutzen, sich fortzubilden oder umzuschulen – wozu es in solchen Krisen erhöhten Bedarf gibt, weil dann die einen Branchen absteigen, während andere neue Dynamik kriegen. In diesem Sinne ist dann auch Schulz‘ Arbeitslosengeld Q (für Qualifikation) sinnvoll.

Die Regel hätte zudem volkswirtschaftlich noch den Vorteil, dass gerade in jenen Zeiten mehr Geld bei den Leuten ankommt, in denen die Wirtschaft rezessionsbedingt ohnehin schon darunter leidet, dass die Leute weniger Geld zum Ausgeben haben. Das verhindert eine schlimmere Abwärtsspirale – ökonomisch wie menschlich. In guten Zeiten ließe sich dafür Geld sparen, wenn es ohnehin nicht so schwer ist, Jobs zu finden.

Das Volk wäre mit Sicherheit dankbar für so viel Verständnis.

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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

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