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Thomas Fricke: Streit der Ökonomen – Deutschland allein zu Haus

16. Juni 2017

In keinem nicht nordkoreanischen Land der Welt wehrt sich das Ökonomie- Establishment so bitterlich dagegen, alte Dogmen abzulegen wie in Deutschland. Eine Schrulligkeit, die teuer zu enden droht.

Es gab eine Zeit, da schien die Welt einfach. Da galt, dass Märkte alles regeln, am besten alles privatisiert, Leistungsträger entlastet und Finanzanlagen möglichst gar nicht besteuert werden, Beschäftigte dafür flexibler sein müssen, und die Globalisierung höchstens ein paar Verlierer schafft. Losung: Auf Dauer werde der Wohlstand von oben nach unten sickern.

 Verlockend. Nur kam dann erst der große Finanzcrash just an dem freiesten aller Märkte – später der Brexit-Entscheid, Trump und andere Beben. Seither ringen rund um den Globus einstmals marktgläubige Denker damit, dass Märkte wohl doch nicht alles regeln, zu viel Freiheit bei den Falschen manchmal Jahrhundertkrisen auslöst, der Reichtum sich doch nicht so märchenhaft verbreitet und der Druck freien Handels gelegentlich auch zu Verwüstungen führt.

Seither hat selbst bei ehemals Orthodoxen wie beim Internationalen Währungsfonds (IWF) ein Umdenken eingesetzt. Und überall wird nach neuen Losungen gesucht. Überall? Na ja, fast. Außer, klar, in Nordkorea. Und bei uns. Kein Scherz. In kaum einem anderen Land poltert das Establishment der Ökonomie so eifrig gegen alles, was die alte Lehre infrage stellt – und gegen jeden, der das wagt. Mit zunehmend bizarren und für uns gefährlichen Auswüchsen.

  • Das Auseinanderdriften von Einkommen? In Deutschland alles halb so wild, befinden unsere Wirtschaftsweisen. Gegen viel Evidenz. Während andere das Phänomen bis in Details auszuleuchten versuchen, um herauszubekommen, was dagegen hilft.
  • Dass Globalisierung zu viele Verlierer schafft? Papperlapapp, tönt es aus den Hans-Werner-Sinn-Leistungszentren. Der Saldo ist positiv. Abweichende Einzelfälle: Pech.
  • Mehr Geld für öffentliche Einrichtungen, Schulen, Unis, Straßen, Schienen, Klimaschutz? Fehldiagnose – so die Sachverständigen. Und wenn schon, soll’s der Markt machen. Und wenn der Markt es nicht macht, ist, klar, der Staat schuld. Steht so in der Bibel, äh, im Lehrbuch. Seit mehr als 30 Jahren. Wer anderes denkt, mit dem muss irgendwas nicht stimmen – der ist, ach, fehlgelenkt. Seit Kurzem ein Massenphänomen.

Als vergangene Woche die früher so orthodoxe Industrieländerorganisation OECD Studien vorlegte, welche Vor- und Nachteile die Globalisierung gebracht hat – und dass die Nachteile dringend anzugehen sind, und sei es über stärker progressive Steuern (was in Amerika selbst konservative Ökonomen seit Jahren fordern), trommelte eine einschlägige Tageszeitung aus Frankfurt alles zusammen, was die deutsche Orthodoxie an Widerstand bietet. Um zu befinden, dass die OECD da wohl „nach links rückt“. Und dass das ja alles irgendwie nicht seriös sei, die Chefökonomin ja irgendwie keynesianisch sei, was in Deutschland etwa so schlimm ist wie Heidi-„Du bist leider raus“-Klum-Fan zu sein.

Alle gegen Deutschland – eine weltweite Verschwörerliste

Den Manie-Preis verdient dabei eindeutig Lars Feld aus dem Sachverständigenrat, der schon seit Monaten „den Eindruck“ äußert, „dass die OECD sich mit dem Internationalen Währungsfonds, der EU-Kommission, mit Italien, Frankreich und SPD abgesprochen hat, um Deutschland zu mehr Verschuldung zu drängen.“ Im Ernst, Herr Feld?

Auf die Verschwörerliste gehören natürlich auch die Amis, die Briten, die „Financial Times“, die Weltbank, der „Economist“, die Bank of England, bei manchen Fragen 90 Prozent der Euro-Zentralbanker, mindestens ein halbes Dutzend Nobelpreisträger, selbst konservative Ökonomen wie Kenneth Rogoff oder Charles Wyplosz („was Schäuble macht, ist kriminell“), die Spanier, die Grünen, die Österreicher, die Griechen, sogar Chefs deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute sowie – Umfragen zufolge – ein Großteil jener Ökonomen, die bei uns jenseits der heiligen Orthodoxie von Sachverständigen, Bundesbank und Ifo-Institut wirken. Also eigentlich die ganze Welt. Gegen uns. So ähnlich muss sich Kim Jong Un fühlen, wenn er abends im Bett liegt. Nur dass er für das Befinden mehr objektive Gründe hat.

Nur um das klarzustellen: Wir wollen nicht ausschließen, dass das Establishment deutscher Ökonomie einfach schlauer ist als das Gros aller anderen praktizierenden Experten auf der Ökonomen-Erde. Der Erkenntnisfortschritt ist keine Demokratieveranstaltung. Ist nur halt nicht super wahrscheinlich. Zumal wenn die Argumente so wackeln, und auch die These, dass die Welt gegen uns ist, nicht so richtig pathologiefrei begründbar ist. In den meisten Versuchen, die Globalisierung neu zu definieren, geht es gar nicht im Kern um Deutschland.

Das Gefährliche ist: Der Spott über schrullig-sture Gelehrte schlägt international allmählich in Fatalismus um. Etwas sei in Deutschland anders, unkt Nobelpreisträger Josef Stiglitz. Mittlerweile schlagen selbst etablierte Vertreter der Zunft hierzulande Alarm. Außerhalb von Deutschland stelle er „mit Erschrecken fest, wie sehr die Diskurse sich auseinander entwickelt haben“, schrieb kürzlich Martin hellwig, eine Instanz der deutschen Ökonomie. Sprich: wie allein deutsche Ökonomen dastehen. Und wie wenig überzeugend.
Wenn Finanzminister Wolfgang Schäuble versuche, die Kritik an Handelsüberschüssen zu kontern, würden „zentrale Aspekte“ der Kritik einfach übergangen. Nichts womit man international anerkannte Spezialisten auch nur ansatzweise überzeugt. Im Gegenteil. Das ist eher peinlich. Oder es heißt, dass irgendein Vorschlag eben irgendwie links ist – das geht natürlich gar nicht.

Der nächste Abschwung könnte gefährlich werden

Dabei steckt in der Natur der Sache, dass so manche marktwirtschaftlichen Auswüchse in der Finanzwelt, bei Vermögen oder beim globalen Handel nicht folgerichtig zwingend durch noch mehr marktwirtschaftliche Zugaben zu lösen sind. Und da ist natürlich auch die deutsche Regierung gefragt, aktiv zu werden.

All das droht auf kurz oder lang zurückzuschlagen. Nicht nur, wie Hellwig warnt, weil schon der Verdacht für uns gefährlich ist, dass wir mit dem Durchdrücken solcher Orthodoxie ein „Greater Germany“ schaffen. So etwas stützt all jene, die Deutschland gerade sehr viel plumper zum Sündenbock machen.

Spätestens im nächsten wirtschaftlichen Abschwung droht sich zu rächen, dass wir uns in den scheinbar guten Zeiten so wenig mit jenem Entgleiten des alten Dogmas beschäftigt haben – und wir vor lauter manischem Zetern gegen neue Ideen ziemlich schlecht vorbereitet sind, wenn:

  • die nächste Finanzkrise kommt, und unsere Währung wieder wackelt, weil wir bloß kein gemeinsames Euro-Budget und keine geteilte Verantwortung wollten;
  • das falsche Sparen an Infrastruktur, Polizei, Unis und Schulen unsere Wettbewerbsfähigkeit kippen lässt;
  • der viel zu langsame Abbau hiesiger Handelsüberschüsse zum Vorwand für Populisten wird, Grenzen zuzumachen oder Strafzölle gegen unsere Exporteure zu erheben;
  • Vermögen und Einkommen noch dramatischer auseinanderdriften, was auf Dauer keine Gesellschaft aushält und auch wirtschaftlich schadet;
  • die Zahl derer stark wächst, die durch Globalisierung und Digitalisierung abgehängt werden, was für neue politische Verwerfungen wie 2016 schon in den USA und Großbritannien zu sorgen droht.

Dann könnten jene im Vorteil sein, die viel früher angefangen haben, jenen Teil der alten Dogmen zu überwinden, der nicht mehr in die Zeit passt – und von der Wirklichkeit widerlegt wurde.

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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

  1. egwmg
    20. Juni 2017 um 00:43

    Ich weiß, Sie gelten als „Linker Ökonom“, aber bitte versuchen Sie nicht laufend, Ihre Ausgabewünsche über eine steigende Staatsverschuldung finanzieren zu wollen:

    Steigende Verschuldung hat -bezüglich des nominalen BIP- eine Effizienz unter 1, d.h. zu viel jenes via Kredit neu geschaffenen Geldes wird gespart. Ausgabewünsche müssen womit über steigendes „Geldrecycling“ finanziert werden, d.h. letztendlich höhere Steuern, da hier der Markt versagt.

    Hier mein Lösungsvorschlag:

    – Aus der Versicherungspflichtgrenze wird eine „Beitragsbemessungsgrenze für die GKV“
    – Aus der bisherigen Beitragsbemessungsgrenze wird eine „Beitragsbemessungsgrenze für die „Gesetzliche Rente“
    – Ab der „Beitragsbemessungsgrenze für die GKV“ steigt die Einkommensteuer um exakt den zusätzlichen Beitrag zur GKV
    – Ab der „Beitragsbemessungsgrenze für die Gesetzliche Rente“ steigt die Einkommenssteuer um exakt den zusätzlichen Beitrag zur „Gesetzlichen Rente“

    Jeder wird für GKV und Gesetzliche Rente beitragspflichtig, darf jenen „Basisschutz“ aber privat erweitern.

    Die so generierten Mehreinnahmen fließen dann in Zuschüsse zur GKV und der „Gesetzlichen Rente“, d.h. führen zu sinkenden Beitragssätzen.
    Die von jenen höheren Steuern betroffenen Personen haben dann zwar Netto weniger und der Kasse, arbeiten aber idR. eh bei exportstarken Unternehmen, d.h. deren resultierend höhere Gehaltsforderung dürfte aus dem deutschen Exportüberschuss bezahlt werden, diesen also teilweise „nach unten“ weiter geben (via sinkenden Beiträgen), was -über die Stützung der Binnennachfrage- diesen reduzieren dürfte.

    Sie bekommen so einen Ansatz, welcher Teile des -schädlichen- Deutschen Exportüberschusses nach „unten“ umleitet.

    Fahren Sie selbst also weiter die Verschuldungsschiene, wecken Sie den Verdacht dies aus Eigeninteresse zu machen, weil -eine Neuverschuldung vermeidende höhere Besteuerung- Sie selbst belasten würde.

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