Startseite > Chefökonom > Thomas Fricke: Folge der Globalisierung – Wirres Wahlvolk

Thomas Fricke: Folge der Globalisierung – Wirres Wahlvolk

20. Oktober 2017

Mal gegen Rot, mal dafür. Mal weg mit der EU, mal mehr davon: Was der Wähler uns gerade vermitteln möchte, ist rätselhaft. Dabei gibt es für das Verhalten einen gemeinsamen Grund – das Ende der alten Globalisierung.

Der Wähler macht gerade einen, sagen wir, etwas unsteten Eindruck. Mal wählt er gegen die Sozis, dann wieder dafür. Die britischen Wähler wollen mehrheitlich irgendwie raus aus der EU, viele Katalanen wieder rein, aber erst raus aus Spanien, die Schotten vielleicht raus aus Britannien, wenn letzteres Europa verlässt.

Die Franzosen wählen erst einen Präsidenten, der mehr EU will, würden den mittlerweile am liebsten aber schon wieder abwählen, weil der so viel für die Reichen macht. Während die Ösis darauf setzen, dass die Welt besser wird, wenn sie blöde Ausländer (wie uns) loswerden – und einen Mann wählen, der jünger ist als Christian Lindner. Die Deutschen wollen mal gucken, was Schwarz mit Gelb-Grün macht. Und die Amis – testen politisch ihre unbegrenzten Möglichkeiten.

Nun kommen dabei natürlich auch ganz rührige Sachen raus. Bei uns finden sich FDPler und Grüne – kürzlich noch beste Feinde – doch eigentlich ganz nett. Was menschlich irgendwie schön ist, aber auch ein bisschen wirkt, als hätten der Christian, der Wolfgang, die Katrin und der Cem plötzlich gemeinsam einen Joint geraucht.

Auffallend oft sind die anderen schuld

So richtig zusammen passt das, was der Wähler da so wählt, nicht. Außer vielleicht, dass auffallend oft immer die anderen schuld sind: die Europäer bei den Briten, die Spanier bei den Katalanen, wir Piefkes bei den Ösis, der (virtuelle) Syrer bei den Sachsen, der faule Franzose bei Macron und der Mauer-averse Mexikaner bei Trump. Und dass smarte junge Männer gerade als Politiker total in sind. Der Rest geht kreuz und quer. Mal feiern Konservative den Sieg, mal alte Nationalmilliardäre und mal hippe Typen, die auf freie Marktkräfte setzen, als hätte es keine Finanzkrise gegeben. Leute, was ist los?

Jetzt könnte man sagen, dass die Probleme halt überall anders sind – und die Wähler einfach die regional passenden Leute wählen. Zum Wohle. Naja. Die Briten verschwenden gerade enorm viel Zeit darauf, sich damit zu beschäftigen, was alles zu regeln ist, wenn man aus der EU raus will – was sie, wie mittlerweile klar ist, Geld kostet, statt dass sie dabei Geld sparen. Katalonienas Nationalisten drohen gerade, ganz Spanien in die Krise zu ziehen. Und die Amerikaner bekommen zunehmend die wirtschaftlichen Kehrseiten der Trump-Regierung zu spüren.

Ob Frankreichs Präsident die Probleme löst, wenn er das Land (noch) ungleicher macht, ist auch nicht ganz sicher. Und: Es ist auch nicht supersicher, dass Jamaika bei uns der Knaller wird – eher ein neuer Rekord im deutschen Spezialgebiet Kompromissmacherei.

Ein gemeinsamer Grund

Die Wirren könnten einen anderen, gemeinsamen Grund haben. Über ein paar Jahrzehnte hat die Sache mit dem schönen Globalisieren beim Wähler fast überall einigermaßen gut gezogen. Da gab es ein klares Leitbild – danach musste alles immer liberaler, alles dereguliert, und die Grenzen möglichst abgeschafft werden. Mit dem Versprechen, dass es dann allen bessergeht. Da wusste der Wähler, was er im Zweifel zu tun hatte: Da wurden erst Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Helmut Kohl mit FDP gewählt. Später auch mal Bill Clinton, der die Finanzwelt noch mehr liberalisierte. Bei uns sogar Rot-Grün – die dann eben auch so eine Politik machten: Agenda. War halt auch (noch) der Zeitgeist.

Genau der ist spätestens mit jener gigantischen Finanzkrise gekippt, in der just jene den größten Schaden anrichteten, die vorher am globalsten wirken durften: Banken und andere Finanzjongleure. Seither scheint klar, wie tückisch das alte Leitbild war, wonach man die Reichen umgarnen muss, damit der Wohlstand irgendwann bei allen ankommt. Und wonach es nur ein paar Verlierer gibt. Und wonach der Staat sich am besten aus allem zurückzieht.

Ein neues Leitbild fehlt

Im Ergebnis hieß das: Das Leitbild war weg. Seither zieht auch das Motto nicht mehr, wonach es im Zweifel am besten ist, noch mehr zu deregulieren, zu kürzen und Grenzen zu öffnen. Nur dass es (noch) kein wirklich überzeugendes neues Leitbild gibt.

Das würde erklären, warum es der Wähler jetzt eben auch schwer hat, Linie reinzubringen. Warum er hier mal ein paar Brexit-Hallodris anheimfällt; oder Trumps krudem Mix aus Protektionismus und Geschenken an die Freunde aus der Finanzwelt – und dort dem Charme des Monsieur Macron. Oder den Rechten, die Wohlstand durch Abschiebung versprechen. Hinter all dem steckt ja nicht wirklich ein Zukunftsding.

Wenn das stimmt, sind die Wählerwirren eine Bestätigung, dass wir eins dringend brauchen: einen überzeugenden Nachfolger für jenes Paradigma von der ungezügelt glücklich machenden Globalisierung, bei dem alles Wohl von freieren Märkten und Geschenken für die vermeintlichen Leistungsträger kommt. Eins, das zum Leitmotiv hat, mehr Geld für wirklich wichtige Dinge auszugeben, weniger für Finanzzauber.

Etwa dafür, dass wir alle schlauer werden (Bildung) und mit weniger Aufwand mehr schaffen; oder dass wir den Klimawandel schneller stoppen, ohne dass wir alle arm werden. Ein Leitbild, das Wachstum nicht durch eine Discount-Strategie zu erzeugen versucht, die darauf angewiesen ist, dass Leute verzichten, zu Billiglöhnen arbeiten oder Doppeljobs machen müssen. Das Geld ist ja da. Und das weder reflexartig darauf setzt, dass wir alles im Leben über den heiligen Markt zu regeln haben, noch darauf, dass stattdessen alles der Staat richtet.

Es gibt eine Menge Ökonomen, die daran schon arbeiten – ob Thomas Piketty mit seinen Diagnosen zur Ungleichheit oder der neue Nobelpreisträger Richard Thaler, der jene Utopie vom rationalen menschlichen Verhalten als Quatsch erkannt hat, die die Basis für das alte Paradigma ewig freier Märkte war. Vielleicht wird daraus bald ein ganz neues Leitbild. Als Vorlage für bessere Politik. Und für Wähler. Die dann auch keinen so wirren Eindruck mehr zu hinterlassen bräuchten.

_______________________
Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

%d Bloggern gefällt das: