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Thomas Fricke: Gründe für den Populismus – 50, motzig, in der Psychokrise

29. Dezember 2017

Warum sind viele Deutsche so wütend, obwohl es der Wirtschaft so prima geht? Vielleicht liegt die Antwort ja darin, dass wir gerade einfach zu viele Menschen Anfang 50 haben – und die sind laut Wissenschaft besonders unzufrieden.

Zum Ende eines Jahres wollen alle noch mal zurückgucken, was so war und gemacht und alles gedacht wurde. Das wirkt schnell sättigend. Zumal das Jahr bei Profizurückdenkern wie Günther Jauch immer schon etwas abrupt gegen Ende November aufzuhören scheint. Deshalb wollen wir an dieser Stelle etwas zu bedenken geben, was wahrscheinlich dieses Jahr noch keiner so gedacht hat – obwohl das mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit ein Fehler war.

Immerhin ist nach wie vor etwas rätselhaft, warum in Deutschland 2017 bei so tollem wirtschaftlichem Verlauf und sinkenden Einbruchszahlen so viele Leute wütend sind. Obwohl dafür ja schon einige Gründe erwähnt wurden, wie fehlende Postämter rund um Bielefeld, viele Flüchtlinge, Martin (immer Schuld) Schulz oder Globalisierung.

Vielleicht hat die Wutlage aber doch noch einen tieferen Grund, einen kollektiv-psychologischen, der weder mit Politikern noch mit dem Islam zu tun hat. Und der eben bisher völlig übersehen wurde.

Zwei Forscher sind dieses Jahr in einer ziemlich eindrucksvollen Studie der Frage nachgegangen, wie sich unsere Zufriedenheit im Laufe des Lebens typischerweise entwickelt. Bis vor einiger Zeit seien die führenden Experten auf dem Gebiet davon ausgegangen, dass es da keine systematischen altersbedingten Schwankungen gibt, und wir mal glücklicher sind, mal unglücklicher. Punkt.

Genau das sei aber offenbar gar nicht so, schreiben David Blanchflower und Andrew Oswald. Erste Studien nährten den Zweifel schon vor ein paar Jahren. Jetzt werteten die beiden Ökonomen sieben riesige Datensätze aus, bei denen insgesamt 1,3 Millionen Menschen in 51 Ländern befragt wurden. Und das bemerkenswerte Ergebnis ist: In fast allen Ländern schwankt der Gemütszustand der Menschen nach Lebensphasen auffallend ähnlich.

Wir starten in der Jugend voll optimistisch und glücklich. Dann beginnt eine lange allmähliche Talfahrt, die bei Amerikanern irgendwo zwischen Mitte 40 und Anfang 50 den Tiefpunkt erreicht; in Europa wird der Mensch mit Anfang 50 von erhöhtem Trübsal befallen. Im Schnitt. Erst danach geht es wieder bergauf. Sprich: Das Leben ist glückstechnisch betrachtet eher so ein U.

Viele Menschen sitzen unten im U

Was die Forscher ermittelten, bestätigen Daten über Suizidraten, die in den kritischen Lebensjahren zunehmen. Ebenso wie psychische Beschwerden. Was an sich ja auch nicht so ungeheuer ist, wo mit dem Durchschreiten der Vierziger-Jahre vermehrt seelisch unangenehme Phänomene wie Frau-weg/Mann-weg, Firma-pleite, Kinder-sagen-nicht-mehr-hallo oder Junge-Kollegin-weiß-alles-besser auftreten. Und das rettende Rentenufer (und Diplom des Sohnes) noch mindestens vier Fußballweltmeisterschaften entfernt ist. Wer da nicht ins Stimmungstief fällt, ist nicht normal.

Und hier beginnt das größere gesellschaftliche Problem. Was ist, wenn plötzlich einfach sehr viele Menschen in einem Land ganz unten am U sitzen? Und wenn die Betreffenden (ganz menschlich) dazu tendieren, in unglücklichen Momenten zu meinen, dass andere schuld sind, deshalb wütend werden und viel schimpfen. Wie, genau, jetzt. Sie ahnen es.

Kein Jahrgang ist heute in Deutschland so zahlreich vertreten wie, genau, der 1964er – also Leute, die im abgelaufenen Jahr 53 wurden. Macht allein 1,4 Millionen Menschen unter uns, die gerade das triste Alter erreicht haben. Dazu kommen mehr als 2,5 Millionen, die in den beiden ebenso anfälligen Jahren danach und noch mal so viele in den beiden Jahren davor geboren wurden – also heute zwischen 51 und 55 Jahre alt sind und in ebendie kritische Kategorie fallen. Macht insgesamt ziemlich viele Babyboomer gleichzeitig im Psychotief. Der Babyboom als National-Depressivum mit Halbjahrhundertverzögerung.

Oder anders ausgedrückt: Keine Generation ist im Land so präsent wie die Babyboomer – und keine lebenszyklusbedingt gerade so mental angeschlagen. Nimmt man alle Babyboomer-Jahrgänge von 1960 bis 1969 zusammen, macht das mehr als 13 Millionen Menschen im Land. Alle tendenziell unten im U.

Zum Vergleich: Die Achtziger-Jahrgänge kommen alle zusammen auf gerade 8,5 Millionen. Was wiederum eindeutig zu dem Befund passen könnte, dass die kollektive (Mehrheits-)Stimmung im Land einfach nicht so toll ist; oder dazu, dass offenbar vor allem ältere Männer um die 50 derzeit politisch besonders wütend sind und Trump wählen, auf Pegida-Demos gehen oder in Foren gegen das Böse schimpfen (wobei nach Auswertung der Bundestagswahlen der AfD-Wähler offenbar schon etwas jünger anfängt, wütend zu sein). Tja.

Geld für die Fünfziger-Pflege

Gut, jetzt könnten Sie natürlich einwenden, dass der Gerd aus der AfD-Ortsgruppe gar nicht 52 ist, sondern schon 70. Und Onkel Bert mit 53 immer noch urig SPD wählt. Klar, es wählen ja auch nicht alle Protest. Und wir sollten davon ausgehen, dass natürlich noch andere Faktoren für die Deutung der politischen Stimmungslage eine Rolle spielen. Mindestens ebenso sicher ist aber, dass der Babyboom-Faktor in der sozio-polit-ökonomischen Analyse der Problemlage im Land bisher arg fahrlässig missachtet worden ist.

Wenn das Phänomen auch nur ansatzweise die Bedeutung hat, die es zu haben scheint, drängen sich mindestens zwei weitreichende Empfehlungen auf.

  • Erstens sollte die Bundesregierung (na ja, wenn wir mal wieder eine richtige bekommen) alle Etats deutlich erhöhen, die geeignet sind, die gerade nachrückenden Jahrgänge aufstocken zu lassen (Frauen! Männer!) – damit dem Überhang der trüben Fünfziger rein zahlenmäßig möglichst rasch mehr entgegengesetzt wird (natürlich auch nicht zu sehr, damit wir in 50 Jahren nicht wieder so einen Durchhänger kriegen).
  • Zweitens wäre darüber nachzudenken, ob es nicht rasch Fonds geben sollte, um Menschen zu betreuen, die unter mittlerem Alter leiden. So eine Art Fünfziger-Pflege. Mit geförderten Seminaren zur Überwindung von Andere-sind-an-allem-Schuld-Syndromen oder akutem Was-wollen-Ausländer-bei-uns-wenn-ich-Probleme-mit-meiner-Lebensphase-habe.

Der Rest könnte sich, was den Demografiefaktor angeht, dann biologisch klären. Immerhin, so fanden Blanchflower und Oswald heraus, steigt die Zufriedenheit von etwa Mitte 50 bis ins hohe Alter wieder stark an – wahrscheinlich sobald die Kinder durch sind, Mann/Frau für den Rest des Daseins gefunden wurde, die erste Überweisung der Rentenkasse zu erahnen ist und der Lebensdruck abnimmt. Universalbefund.

Durchhalten: In zehn Jahren ist auch der letzte Babyboomer durch die kritische Phase.

Guten Rutsch.

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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

  1. Jochen
    6. Januar 2018 um 14:00

    Ein weiterer Aspekt besteht in der Tatsache, daß der Großteil der Babyboomer auch gleichzeitig die Kinder der Kriegskinder, die sog. Kriegsenkel, sind.
    Grade die Generation der Kriegskinder, welche in den Jahren des 3. Reiches geboren wurden, sind durch Krieg, Flucht und Vertreibung aber auch durch den emotionslosen Zeitgeist stark geprägt, schlimmer noch: traumatisiert worden. Diese Traumatisierung wurde an ihre Kinder, den heutigen Babyboomer weitergegeben. Viele unter ihnen haben dadurch das Gefühl im Leben nicht angekommen zu sein und verfallen so in das Psycho-Tief.
    Die „Kriegsenkel“ – Thematik wurde u.a. von der Publizistin und Buch-Autorin Sabine Bode schon vor Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

  2. Thorsten Schmitt
    3. Januar 2018 um 20:10

    Das würde einiges erklären. Bin 66er und höre schonmal Beschwerden von meinen Allerliebsten (Partnerin, 2 Töchter)

  3. Tilman Borck
    30. Dezember 2017 um 10:33

    Die Babyboomergeneration ist nicht von 1960-1969, sondern von 1945-1965.

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