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Thomas Fricke: Boom im Euroraum – Tschuldigung, Südländer!

5. Januar 2018

Gerade wurden sie noch als faul verspottet. Jetzt boomt die Wirtschaft bei Spaniern, Portugiesen und Griechen – teils sogar stärker als bei uns. Höchste Zeit für ein deutsches Mea culpa.

Es gibt Medienexperten, die sagen, dass die Leute so gern „Dschungelcamp“ gucken, weil sie da Leute sehen, die (noch) doofer sind. In dem Sinne war die Eurokrise für uns Deutsche eine tolle Sache, so eine Art Reality-Dauersendung ohne Script. Da konnten wir täglich in der „Bild“-Zeitung lesen, wie die Griechen wieder irgendwas nicht hinbekommen, schludern, pfuschen. Und die Spanier und Portugiesen uns jedenfalls Geld kosten. Ohne sich anzustrengen. Failed States, kaputte Staaten. Südländer halt. Wogegen wir fleißig, ordentlich, pünktlich sind. Prima.

Und was erlaube Südländer jetzt? Seit Monaten bekommen wir Meldungen, dass die Griechen am Finanzmarkt wieder als vertrauenswürdig erachtet werden. Und die Konjunktur in Spanien und Portugal läuft. Oder dass ein französischer Präsident gute Reformen vorschlägt, auf die wir jetzt antworten sollen. Geht’s noch?

Wozu sich unglücklicherweise der Umstand gesellt, dass bei uns gerade gar keiner recht regieren will. Und so Dinge passieren, wie dass der Schnellzug auf der nigelnagelneuen Trasse nicht ankommt, wann er soll. Und am Flughafen BER seit mehr als 2000 Tagen Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit ein Vakuum feiern.

Zum Jahresstart also mal ein kleines Sorry gen Süden? Aus dem Dschungelcamp. Mit Besserungsgelöbnis. Und eine Umdeutung der Hans-Werner-Sinn-Krise.

Klar, gibt es bei uns gerade gute Nachrichten wie die, dass 2017 gut 600.000 Arbeitsplätze dazugekommen sind. Weniger durchgedrungen ist, dass im deutlich kleineren Spanien zeitgleich fast genauso viele Jobs geschaffen wurden. Macht einen Zuwachs von fast drei Prozent – etwa doppelt so viel wie bei uns. Ähnliches gilt für Portugal. Selbst in Griechenland kamen prozentual mehr Jobs dazu und in Frankreich eine Viertelmillion – in dem Land, das angeblich sklerotisch dahinsiecht.

Beim Wachstum hinter den Italienern!

In sämtlichen früheren Krisenländern des Südens wuchsen die Exporte 2017 schneller als unsere – in Spanien, Griechenland und Portugal mit sechs bis acht Prozent. Bei uns: so um die vier. Ähnlicher Befund fürs Wirtschaftswachstum insgesamt, das bei uns erstmals wieder über zwei Prozent liegt – in Spanien im dritten Jahr in Folge über drei. Es gab nach jüngsten Schätzungen im Jahr 2017 nur noch sechs von 27 EU-Ländern, in denen die Wirtschaft langsamer als bei uns expandierte. Pro Kopf stieg die Wirtschaftsleistung in Deutschland mit 1,3 Prozent sogar langsamer als in Italien.

Wie kann das sein? Gibt es in Griechenland unbemerkt plötzlich so effiziente Verwaltungen wie, sagen wir, bei uns in der Berliner Flughafenverwaltung (kleiner Scherz)? Doch kein Failed State? Oder haben die alle ihre Länder von Grund auf saniert? Eher unwahrscheinlich. Das hätten wir ja gemerkt. Unsere Oberwachtökonomen haben uns ja noch vor Monaten erklärt, dass die Griechen immer noch gefühlte drei Millionen Reformen nicht umgesetzt haben. Und kein richtiges Katasterdings haben. Und bei den Krisenländern seit Jahren schon alles in die falsche Richtung geht (Sinn). Oder dass die Defizitregeln hundertfach gebrochen wurden. Und die EZB ohnehin nur Mist macht.

In Portugal hat eine Linksregierung seit 2015 sogar Mindestlöhne angehoben und Arbeitszeiten reduziert – gegen alle Orthodoxie; seither erlebt das Land eine Wiederauferstehung. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg 2017 um fast drei Prozent.

Der Süden war nie so marode, wie er geredet wurde

Klar ist in den Ländern auch das eine oder andere klassisch reformiert sprich: flexibilisiert worden. Dass die Wirtschaft fast überall jetzt wieder läuft, muss aber andere Gründe haben.

Wahrscheinlicher ist: Die Südländer waren nie so marode, wie sie in hiesigen Dschungelshows geredet wurden. In Spanien wie Frankreich fahren Züge schneller und pünktlicher als bei uns. Der tiefere Grund für die Eskalation dürfte nicht die Mentalität gewesen sein (zumal, sagen wir, Irland ja nur bei sehr großzügiger Auslegung im Süden liegt), sondern die Schockwelle, die von Jahrhundertfinanzkrise und Lehman-Pleite ab 2008 ausging.

Laut Auswertungen von Historikern haben es solche Bankenkrisen an sich, ganze Staaten in Schuldenprobleme zu stürzen – als Folge, nicht Ursache: weil viel Geld für die Rettung von Banken draufgeht. Und zappelige Anleger nach solchen Crashs panisch in die supersicherste Anlage flüchten. Glück fürs Bundesbank-Land, Pech für die anderen. Was nicht heißt, dass es in Griechenland nicht auch Ausgabenexzesse gab.

Wie die über Jahrhunderte reichende Analyse gezeigt hat, führen Finanzkrisen typischerweise dazu, dass die (reale) Wirtschaft danach über Jahre schwächelt. Weil die Banken erst mal auf Sanierung setzen, statt neue Kredite zu vergeben. Oder viele erst mal Schulden zurückzahlen, bevor sie wieder Geld ausgeben. Was umso länger dauert, je später die Notenbank via Niedrigzinsen hilft. Oder weil Unternehmen nach so einem Schock über Jahre zögern, bevor sie wieder Geld in größere Projekte stecken.

Genau hier könnte die Erklärung für das aktuelle Comeback der Europäer liegen. Irgendwann lässt der Druck nach, ist der Schock lange genug her, um nicht mehr lähmend nachzuwirken, und gibt es wieder mehr Geld, was nicht zur akuten Schuldentilgung gebraucht wird.

Auch wenn der Zeitpunkt für so eine Wende schwer vorherzubestimmen ist: Es spricht einiges dafür, dass genau das gerade passiert. Zumal nach den Irrungen des deutsch-griechischen Traumpaars Schäuble-Varoufakis keine akute Sorge mehr umgeht, der Euro könnte uns abhandenkommen.

Die Wirtschaft funktioniert wieder normal

Und es erstmals keine größeren wirtschaftlichen Krisen im Rest der Welt gibt – so wie 2016 noch in vielen Schwellenländern. Tatsächlich ist die Kreditvergabe erstmals seit Jahren 2017 spürbar angezogen, nach Jahren steter Rückgänge wuchs das Geschäft im Euroraum wieder mit mehr als zwei Prozent. Das Wachstum der Kredite an Unternehmen zog im Herbst sogar auf mehr als drei Prozent an.

Wie der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding, sagt: „2017 war das Jahr, in dem das Zeitalter der Vorsicht nach dem Lehman-Schock zu Ende ging“ – nicht nur in Europa. Und in dem die Wirtschaft zumindest in Teilen wieder normal funktioniere. Sprich: in dem eine gute Konjunktur nach einigen lethargischen Jahren auch wieder für mehr Jobs und Investitionen sorgt.

Wenn das stimmt, wäre es schön, in Deutschland die ökonomische Sinn-Kompetenz zu prüfen, die seit den Hochzeiten der Krise durchs Land geistert – und mit dem albern-hochnäsigen Poltern über Südeuropäer aufzuhören. Sorry, Griechen, wir können uns unsere Ökonomen und Boulevardsheriffs halt auch nicht aussuchen.

Zweitens stünden dann die Chancen nicht so schlecht, dass die guten Zeiten noch eine Weile bleiben – weil es nach so langer Zögerzeit in den Krisenländern viel nachzuholen gibt. Ob an Investitionen. Oder Ausgaben für ein neues Auto. So wie in Deutschland ab 2006.

Das ist keine Garantie gegen neue Krisen, klar. Und es hat auch den Nachteil, dass wir uns ein neues Dschungelcamp suchen – oder damit klarkommen müssen, dass Südeuropäer auch nicht grundsätzlich doofer sind als wir.

Dafür hat es einen eindeutigen Vorteil: 2017 haben deutsche Firmen allein für gut zehn Milliarden Euro mehr nach Frankreich, Italien und Spanien verkaufen können. Und fünf Prozent mehr nach Griechenland. Traumhaft. Hat einfach auch was Gutes, wenn anderen das Kriseln ausgeht.

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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

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