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Thomas Fricke: Liberalisierung – Das Märchen vom bösen 68er

26. Januar 2018

Von wegen 68er: Die realen Probleme Deutschlands haben sehr viel mehr mit den Spät- und Nebenfolgen der letzten konservativen Wende zu tun – kein Grund für noch so einen Schub Blödsinn.

Der 68er ist ganz schön praktisch. Zumindest für die eher zum Konservativen Neigenden unter uns. Egal was schiefläuft, der 68er ist schuld. Ob an Heimatverlust, osteuropäischen Banden, flächenweit mangelndem Patriotismus oder, noch schlimmer, Gleichstellung der Frau. Und irgendwie auch an so komplizierten Dingen wie der „Geldmengeneskalation“ der Europäischen Zentralbank, also dem Nullzins.

So tönte der führende deutsche Dichter und Denker Alexander Dobrindt, als er zum Jahresstart irgendwas mit konservativer Revolution zu wünschen gedachte. So liest sich auch die eine oder andere Kolumne im Land.

Jetzt lässt sich bei dem einen oder anderen Phänomen des Jahres 2018 nach Christus analytisch sicher eine Spur über fünfzig Jahre zurück nach 1968 verfolgen. Also wahrscheinlich. Für die meisten aktuellen Übel braucht es ein zumindest etwas gröberes Verständnis von Ursache-Wirkungs-Ketten, also den Zusammenhang zwischen der Kommune 1 und rumänischen Gastkriminellen. Oder Uschi Obermaier und Mario Draghi.

Das wirkt dann eher wie ein ziemlich dreister konservativer Versuch der Geschichtsumdeutung.

In Wahrheit liegt das Gros der tieferen Probleme heute ja weniger bei den Langhaarigen von anno dazumal, sondern im Gegenteil in den Spätfolgen jener konservativen Wende, mit der die Hippiegarde um Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Helmut Kohl in den frühen Achtzigern die Ära vom Glauben an heilige Marktkräfte und das Durchsickern des großen Geldes hin zu den Armen einleiteten – samt späterem Kontrollverlust und Heimatkrise. Dann hilft gegen unsere Probleme aber auch nicht, jetzt den nächsten konservativen Unsinn noch draufzulegen. Geschichtsgott, hilf!

Wenn es heute in Dörfern keine Post mehr gibt, hat das ja weniger mit Alt-68ern als damit zu tun, dass im Reagan-Thatcher-Kohlschen Liberalisierungseifer einst irgendwie alles privatisiert werden und dem Alles-muss-jetzt-Gewinn-machen-Fetisch erliegen musste. Da wurde die Zahl der Post-Beschäftigten eben drastisch gekürzt. Von einem CDU-Postminister. Wodurch der Laden schön Gewinn machte. Nur gibt es eben jetzt keine Post mehr im Dorf. Was ähnlich gilt für die Ärzteversorgung. Auch die darf ja nicht so viel kosten. Da kann man eben nicht überall im Land eine Praxis haben. Und da muss der Patient auch mal ein paar Monate auf Abfertigung warten.

Hauptsache, die Staatsquote fällt

Wenn es in Deutschland heute vermeintlich zu wenig Polizisten zum Aufpassen gibt, hat auch das mehr mit marktliberaler als linker Staatsfeindschaft zu tun. Konservative Errungenschaft. Es musste ja über Jahre, weil der Markt es nach gängigem Dogma immer besser kann, der Staat kleiner werden. Hauptsache, die Staatsquote fällt. Was dazu führte, dass dieselben Ökonomiepäpste juchzten, dass in öffentlichen Verwaltungen Jahr für Jahr ein Prozent weniger Leute beschäftigt waren, die jetzt Stellenmangel beklagen. Da gab es am Ende eben auch weniger Polizisten. Und wir müssen schon einmal ein paar Monate warten, bis unsere Slimfit-Behörden einen Ausweis fertig haben.

Wenn osteuropäische Banden heute so locker auf Einbruchtourismus machen, ist das ebenfalls kein linker Feldzug gegens Bürgertum, sondern – wenn überhaupt – Nebenfolge jenes konservativ-wirtschaftsliberalen Leitmotivs, nach dem Grenzen nicht offen genug sein können. Und deshalb auch möglichst schnell möglichst viele Länder in die EU kommen sollten. Was nirgendwo heute so grotesk wirkt wie in Großbritannien, das einst vorbildlich wirtschaftsliberal die Grenzen für Osteuropäer schon öffnete, bevor es die EU-Verabredungen vorschrieben – und heute Populisten beheimatet, die mit Wehklagen über polnische Klempner das Land ins Politdesaster stürzen. Das spricht nicht dafür, die EU wieder abzubauen, belegt aber, dass das Problem eher bürgerliche Wurzeln hat.

Nächstes Beispiel: das Verschwinden regionaler Eigenheiten? Auch ziemlich weitgehend vom marktliberalem Verständnis getrieben: weil das Ideal vollkommener Konkurrenz nur gewährleistet ist, wenn einzelne Länder nicht hier und da Sondernormen halten, die es ausländischen Konkurrenten schwer machen, dort zu verkaufen. Grundsätzlich nachvollziehbar. Nur eben fraglich, ob das Prinzip nicht zu weit getrieben wurde. Auf Kosten des Lokalkolorits.

Der Homo Oeconomicus ist universell

Nichts ist im Grunde so gleichmachend, geschichts- und identitätsvergessen wie die handelsüblichen Ökonomie-Erklärungsmodelle der vergangenen Jahrzehnte. Da ist ziemlich wenig die Rede von (nationalen) Identitäten oder menschlichen Mentalitätsunterschieden. Der Homo oeconomicus ist universell. Ob in Bottrop oder Hanoi. Multikulti auf Ökonomisch. Kern liberal-konservativen Wirtschaftsverständnisses. Ob man das gut findet oder nicht.

Selbst Zuwanderung und Gleichberechtigung sind keine Exklusiv-Empathien ausgeprägter Linker, dem stehen auch Wirtschaftsverbände recht wohlwollend gegenüber – wenn auch aus etwas schnöderen Gründen: wenn Arbeitskräfte fehlen, werden Frauen und Ausländer gebraucht (die müssen ja deshalb nicht gleich in den Vorstand).

Die Liste lässt sich noch verlängern. Wenn Regierungen heute zum Unmut des Volkes gelegentlich etwas hilflos wirken, hat das seine Ursprünge nicht 1968, sondern darin, dass mancher Konzern vor lauter Markttreiben und Globalisierung einfach zu einer kleinen Weltmacht geworden ist. Oder es für Reiche Steuermodelle auf Inseln gibt. Und die Großakteure an den Finanzmärkten schon einmal Regierungen vor sich hertreiben. Demokratie? Wenn der weise Markt urteilt, muss halt auch das Volk mal die Klappe halten. Bevormundung.

Exzesse eines schiefgelaufenen Experiments

Unsere Bundestagsabgeordneten hätten in der Eurokrise nicht so hastig Akuthilfen für Griechen absegnen müssen, wenn nicht diese Finanzmärkte wieder verrückt gespielt – und von Frohsinn auf Panikattacken umgeschaltet hätten (wie 2011/12). Auch das hat seine Wurzeln nicht bei Uschi Obermaier, sondern bei Ronald Reagan – Folge der Exzesse eines schiefgelaufenen konservativen Experiments. Verständlich, dass mancher im Land ärgerlich ist, wenn über Jahre alles Mögliche gekürzt wurde – und jetzt (scheinbar) mehr Geld für Andere da ist. Die Frage müsste nur lauten: musste überhaupt so viel gestrichen werden?

Dass an allem die 68er schuld sein sollen, ist ein ganz schön plumper Versuch, die Geschichte umzudeuten. Egal, was man von denen hält. Was nicht heißt, dass es für Konservative keinen legitimen Wunsch gibt, sich an Volksfesten und Nationalsymbolen zu erfreuen. Nur: wer die Probleme im Land wirklich lösen will, sollte auch ein bisschen genauer hinsehen – vom ritualisierten Schimpfen auf gealterte Lieblingsfeinde gehen die bestimmt nicht weg. So schön das die konservative Seele erheitert.

Der Banker Leonhard Fischer hat kürzlich gesagt: „Der systemverändernde Politikwechsel wird von links kommen, sobald sich die Linke konzeptionell erneuert hat.“ Vielleicht. Könnte sich lohnen, wenn der eine oder andere Konservative dabei ist.

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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

  1. 30. Januar 2018 um 22:06

    Hat dies auf BEFELDT Steuerblog rebloggt und kommentierte:
    Wer nach Ansätzen der Erklärung des gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Zustands unserer westlichen Gesellschaften sucht, findet hier pointiert vieles zum Nachdenken.

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