Es ist ein ganz klein bisschen so wie vor langer Zeit einmal im Osten. Täglich ereilen uns neue Meldungen über Rekorde in den Produktionsstätten der Republik – ein Boom angeblich, der nicht enden will. Nur das Volk will einfach nicht richtig zufrieden sein. Es brodelt. Wie damals.
Okay, das ist jetzt ein Vergleich, der hinkt – zumindest für Mitglieder der dieser Tage eindrucksvoll implodierenden Sozialdemokratischen Partei, die aber gerade eine ähnlich existenzielle Fallhöhe zu bekommen scheint wie für die Diktatoren damals. Es drängt sich die Frage auf, wie es sein kann, dass eine Regierungspartei bei so viel vermeintlichem Boom so wenig Volkslob erfährt.
Mit der einen oder anderen möglichen Antwort haben wir uns hier ja schon beschäftigt – ob mit den Abstiegsängsten in der Mittelschicht oder der aktuell hohen Konzentration unzufriedener 50-Jähriger im Land. Eine andere Erklärung könnte sein, dass uns derzeit sehr viel mehr Boom verkauft wird als wir haben. Was wiederum erklären könnte, warum bei vielen auch nicht so viel vom Paradies ankommt. Und die SPD sich eher, sagen wir Boom-untypisch entwickelt.
Klar hatte die deutsche Wirtschaft jetzt schon seit acht Jahren keine richtige Rezession mehr. Auch gibt es statt einst fast fünf nur noch 2,5 Millionen Arbeitslose im Jahr, und wir freuen uns mit unseren Konzernchefs, dass noch nie so viel Gewinn gemacht wurde.
Zu den weniger Boom-gerechten Teilen der Wahrheit gehört, dass diese Unternehmen bisher viel zu wenig Geld wieder in Investitionen steckten. Die liegen trotz zwischenzeitlich eingetretener Besserung kaum höher als vor zehn Jahren – ein Zukunftsverweigerungsdrama.
Ein anderer Minusrekord: Noch nie konnten bundesdeutsche Firmen ihren Export in einem Aufschwung so wenig aufstocken wie diesmal – Symptom einer ins Stocken geratenen Globalisierung. Nicht gut für ein Land, das seinen Wohlstand nach wie vor stark darauf aufbaut, dass der Umsatz im Ausland boomt.
Ein Sparbrötchen-Boom
Entsprechend bizarr wirkt das Boom-Geschwurbel denn auch beim näheren Blick auf die Wachstumsbilanz insgesamt. Was hierzulande als toll durchgefeiert wird, ist im internationalen wie im historischen Vergleich alles andere als besonders – eher besonders mickrig. Zwei Prozent Wachstum – ein Boom?
Zur Erinnerung: Im Sommermärchenjahr 2006 waren es fast vier Prozent. Mittlerweile wachsen frühere Krisenländer wie Spanien und Irland wirtschaftlich wieder deutlich stärker als Deutschland. Länder wie die USA sowieso. Dort konnten die Leute in einem auch schon nicht so tollen Aufschwung bisher jährlich gut 2,5 Prozent mehr konsumieren – in Deutschland nur 1,6 Prozent. Es ist gaga, aus solchen Raten einen Konsum-Boom herbeizuphantasieren.
Mehr noch – und besonders heikel: Wenn das Wachstum in den vergangenen beiden Jahren in Deutschland überhaupt einmal um die zwei Prozent erreichte, lag das zu einem Gutteil daran, dass ziemlich viele Menschen ins Land kamen, die Geld bekamen und ausgaben und es noch tun. Ob aus Syrien oder europäischen Ländern mit (immer noch) hoher Arbeitslosigkeit wie Spanien. Gut für die Wirtschaft. Nur eben auch trügerisch.
Wie viel bei jedem Einzelnen vom Zuwachs an Wirtschaftsleistung landet, lässt sich denn auch besser erahnen, wenn man die ohnehin schon eher mühsam hochgefeierten Wachstumsraten auf jeden Einwohner umrechnet. Ergebnis: Pro Kopf wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Schnitt seit 2013 um jährlich mickrige 1,1 Prozent – keine Katastrophe, aber eben auch nichts, was man auch mit sehr viel Liebe nur ansatzweise als so etwas wie einen Boom einstufen kann.
Das ist deutlich weniger als die rund 1,8 Prozent, mit denen die Wirtschaft in den Jahren 1998 bis 2007 pro Kopf wuchs. Die Konsumausgaben pro Kopf legten im Schnitt seit 2013 sogar nur um 0,9 Prozent zu. Was heißt, dass so mancher heute wahrscheinlich weniger ausgeben kann als damals. Ein Sparbrötchen-Boom.
Eine Menge Potenzial nach oben
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: dass die deutsche Wirtschaft überhaupt schon so lange wächst, ist prima – und straft all jene Lügen, die uns vor zehn Jahren einreden wollten, dass so etwas ohne Verzicht und ewiges Reformieren und Umverteilen nach oben nicht geht.
Ebenso wie es jene gerade etwas blöd aussehen lässt, die seit Jahren vergeblich Schlimmes prophezeien, weil die furchtbare schwarz-rote Regierung angeblich alles falsch macht und zu viel teures Sozialgedöns beschließt (was sie, wenn überhaupt, bisher ja nur sehr dosiert getan hat). Quatsch.
Der Sparbrötchenbefund könnte allerdings erklären helfen, warum es sich in diesem Land selbst nach Jahren des Wachstums nur sehr bedingt unbeschwert anfühlt. Warum es bisher auch keine typischen Boom-Phänomene wie stärker steigende Inflationsraten oder wirklich kräftig wachsende Löhne gibt (da hilft als Gegenbeleg auch nicht der Verweis auf lokalen Überhitzungen am Immobilienmarkt).
So ließe sich auch verstehen, warum es keine gute Idee war, Wirtschaftsdynamik über ständiges Kürzen, einen Schwarze-Null-Fetisch oder sonstige Maso-Konzepte erzeugen zu wollen, wie es unsere Großökonomen lange predigten. Das lässt halt keine unbeschwerte Laune aufkommen – und nur bei sehr großzügiger Interpretation so etwas wie einen Konsum- oder Investitions-Boom.
Das ist womöglich auch ein Grund dafür, dass die SPD als Ex-Garant für bessere Lebensgefühle unter Nichtprivilegierten jenseits aller Personalpeinlichkeiten einen historisch so viel tiefer sitzenden Absturz erlebt, der sich gerade noch beschleunigt.
Das Gute an dem Befund ist, dass wir noch Potenzial haben, aus dem Böömchen noch mehr werden zu lassen – anders als es uns manche Experten einzureden versuchen, die jetzt schon mit viel Theatralik vor Auswüchsen des (Sparbrötchen-)Booms warnen. Nur wird dafür kaum reichen, was die angeheirateten Großkoalitionäre in spe im Programm haben: In vier Jahren 46 Milliarden Euro ausgeben und in Umlauf bringen – das wird die Wirtschaft, wenn es gut läuft, um ein paar Zehntel mehr wachsen lassen. Nichts was im Volk plötzliche Begeisterung auslösen wird.
Nicht dass sich irgend jemand nachher wundert, dass es auch in zwei Jahren noch keine wirtschaftlichen Wunder gibt, die bei (mehr oder weniger) allen im Land ankommen.