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Thomas Fricke: Brückeneinsturz in Genua – Kaputtgespart

19. August 2018

Selten wurde so dramatisch an der Erneuerung öffentlicher Substanz gespart wie zuletzt im Euroraum – und dort nirgendwo so viel wie in Italien. Auch diese Tatsache gehört auf die Liste möglicher Gründe für die Genua-Tragödie.

Klar hat es etwas Unerhörtes, wenn Italiens polternd rechter Innenminister für die Katastrophe von Genua reflexartig seine Lieblingsfeinde in Brüssel mitverantwortlich macht. Bevor überhaupt irgendetwas zur Ursache geklärt ist. Was Populisten wie Matteo Salvini halt so tun, um die eigene Gefolgschaft mit Feindbildern zu bedienen.

Nur muss das nicht heißen, dass der Verdacht per se unerhört ist: Dass also in die Liste möglicher Erklärungen für das unfassbare Desaster dieser Woche auch gehört, wie manisch die Regierungen Italiens und anderer Euro-Krisenländer in den vergangenen Jahren dazu getrieben wurden, öffentliche Ausgaben zu kürzen. So sehr, dass jetzt die Infrastruktur auf beängstigende Art verfällt. Und Brücken einstürzen.

Wenn der Verdacht sich auch nur ansatzweise bestätigt, müsste man dies als das einstufen, was es ist: der Bankrott eines wirtschaftspolitischen Dogmas. Nicht um Feindbilder zu pflegen. Sondern um die nächste Katastrophe noch zu verhindern.

Was an Investitionen seit Jahren ausblieb und gekürzt wurde, führt das hierzulande oft noch gängige Gezeter über schludernde Südländer ad absurdum. Noch Anfang der Nullerjahre gaben die Regierungen in fast allen späteren Krisenländern vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Investitionen in die Zukunft aus – ob in Griechenland, Irland, Spanien oder Portugal. Selbst in Italien waren es damals fast drei Prozent.

Nichts lässt sich leichter kürzen

Der Bruch kam, als in der Finanzpanik nach 2008 plötzlich überall gekürzt wurde – teils um mit dem Geld Banken zu retten, teils um krisenbedingte Steuerausfälle auszugleichen. Weil ohne Blut und Tränen, so das Dogma, wahlweise die Deutschen oder die Finanzmärkte kein Geld mehr geben. Und: Nichts lässt sich so schnell kürzen wie gerade jene großen Investitionen in Straßen oder Hochschulen, die Finanzminister in der Regel einzeln freigeben müssen – anders als gesetzlich gebundene Ausgaben wie etwa Sozialleistungen oder Subventionen, die so schnell gar nicht zu kürzen sind.

Das erklärt, warum zwischen Ende der Nullerjahre und 2016 die Investitionsquote in Irland, Spanien und Portugal auf weniger als zwei Prozent fiel. In Italien sank sie um ein Drittel. Die Mittel für den Straßenbau wurden dort zwischen 2007 und 2015 von einst etwa 14 Milliarden Euro sogar um fast zwei Drittel gestrichen.

Drastisch schwindende Substanz
Staatliche Investitionen abzüglich Abschreibungen* in Prozent des Bruttoinlandsprodukts

Welches Drama dahintersteckt, zeigen Statistiken, die offenlegen, ob diese Investitionen im jeweiligen Land noch reichen, den Ersatzbedarf an Infrastruktur zu decken – oder niedriger liegen als das, was abgeschrieben wird. Wie aus Berechnungen des Berliner Ökonomen Achim Truger hervorgeht, deckten die öffentlichen Investitionen in der Eurozone schon 2013 nur noch knapp, was zu ersetzen war – seitdem ist die Bilanz negativ, Jahr für Jahr.

Italiens Regierungen kürzten die Ausgaben so drastisch, dass es schon seit 2012 nicht mehr reicht, um die Abschreibungen auszugleichen. Sprich: Seit sieben Jahren wird in dem Land Jahr für Jahr weniger staatlich investiert, als nötig wäre, um den Bestand an Straßen, Schulen und Brücken zu erhalten. Man muss ein sehr eigenes Verständnis von Ursache und Wirkung haben, um da einen Zusammenhang nicht zumindest für möglich zu halten.

Da hilft auch der Verweis darauf wenig, dass in manchem Land in der boomenden Zeit zuvor vielleicht zu viel in Flughäfen investiert wurde, die keiner braucht. Das legitimiert nicht, dass jetzt über Jahre landesweit die gesamte Substanz nicht mehr erneuert wird – in Ländern, die ohnehin gegenüber den reicheren noch einiges an Aufholbedarf haben. Zumal es gerade in Italien in den Jahren vor der Krise keinen überschwänglichen Boom gab, ganz und gar nicht.

Selbst Amerika hat es besser
Staatliche Investitionen abzüglich Abschreibungen* in Prozent des Bruttoinlandsprodukts

Ein Experiment mit Deutschland als Vorlage

Was in der Eurozone gerade passiert, trägt historisch dramatische Züge. Eine so lange Phase, in der öffentliche Einrichtungen verfallen, hat es in keinem großen Industrieland in den vergangenen Jahrzehnten gegeben. Ein atemberaubendes Experiment, für das Deutschland auf fatale Art als Vorlage dient: Hierzulande wird praktisch seit Beginn der Nullerjahre kaum mehr dafür gesorgt, die öffentlichen Einrichtungen ordentlich instand zu halten.

Das könnte erklären, warum seit Dienstag auch bei uns so viel mehr oder weniger Erschreckendes darüber zu lesen ist, wie marode viele Brücken sind. So etwas hat es selbst in den diesbezüglich ja bekanntlich ebenfalls schwächelnden USA nicht gegeben. Dort sind zwar die staatlichen Investitionen auch stark gesunken – nur bleibt die Nettoquote mit knapp einem Prozent immer noch im positiven Bereich.

Nicht auszuschließen, dass hinter dem Drama in Genua auch ein schrecklicher menschlicher Einzelfehler lag, zumal der Unterhalt der Brücke an Private abgegeben wurde. Es liegt nur nahe, zu vermuten, dass es zu so einer Katastrophe doch nicht gekommen wäre, wenn nicht alles, was öffentlich eigentlich investiert werden müsste, seit Jahren dem Kürzungsdruck unterläge, wie dies in den vergangenen Jahren der Fall war. Und dann wäre es besser, nicht einfach abzuwarten, ob es womöglich doch nur ein tragischer Einzelfall war. Nicht nur für Italien, sondern auch für uns.

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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

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