Thomas Fricke: Brückeneinsturz in Genua – Kaputtgespart
Selten wurde so dramatisch an der Erneuerung öffentlicher Substanz gespart wie zuletzt im Euroraum – und dort nirgendwo so viel wie in Italien. Auch diese Tatsache gehört auf die Liste möglicher Gründe für die Genua-Tragödie.
Welches Drama dahintersteckt, zeigen Statistiken, die offenlegen, ob diese Investitionen im jeweiligen Land noch reichen, den Ersatzbedarf an Infrastruktur zu decken – oder niedriger liegen als das, was abgeschrieben wird. Wie aus Berechnungen des Berliner Ökonomen Achim Truger hervorgeht, deckten die öffentlichen Investitionen in der Eurozone schon 2013 nur noch knapp, was zu ersetzen war – seitdem ist die Bilanz negativ, Jahr für Jahr.
Italiens Regierungen kürzten die Ausgaben so drastisch, dass es schon seit 2012 nicht mehr reicht, um die Abschreibungen auszugleichen. Sprich: Seit sieben Jahren wird in dem Land Jahr für Jahr weniger staatlich investiert, als nötig wäre, um den Bestand an Straßen, Schulen und Brücken zu erhalten. Man muss ein sehr eigenes Verständnis von Ursache und Wirkung haben, um da einen Zusammenhang nicht zumindest für möglich zu halten.
Da hilft auch der Verweis darauf wenig, dass in manchem Land in der boomenden Zeit zuvor vielleicht zu viel in Flughäfen investiert wurde, die keiner braucht. Das legitimiert nicht, dass jetzt über Jahre landesweit die gesamte Substanz nicht mehr erneuert wird – in Ländern, die ohnehin gegenüber den reicheren noch einiges an Aufholbedarf haben. Zumal es gerade in Italien in den Jahren vor der Krise keinen überschwänglichen Boom gab, ganz und gar nicht.
Ein Experiment mit Deutschland als Vorlage
Was in der Eurozone gerade passiert, trägt historisch dramatische Züge. Eine so lange Phase, in der öffentliche Einrichtungen verfallen, hat es in keinem großen Industrieland in den vergangenen Jahrzehnten gegeben. Ein atemberaubendes Experiment, für das Deutschland auf fatale Art als Vorlage dient: Hierzulande wird praktisch seit Beginn der Nullerjahre kaum mehr dafür gesorgt, die öffentlichen Einrichtungen ordentlich instand zu halten.
Das könnte erklären, warum seit Dienstag auch bei uns so viel mehr oder weniger Erschreckendes darüber zu lesen ist, wie marode viele Brücken sind. So etwas hat es selbst in den diesbezüglich ja bekanntlich ebenfalls schwächelnden USA nicht gegeben. Dort sind zwar die staatlichen Investitionen auch stark gesunken – nur bleibt die Nettoquote mit knapp einem Prozent immer noch im positiven Bereich.
Nicht auszuschließen, dass hinter dem Drama in Genua auch ein schrecklicher menschlicher Einzelfehler lag, zumal der Unterhalt der Brücke an Private abgegeben wurde. Es liegt nur nahe, zu vermuten, dass es zu so einer Katastrophe doch nicht gekommen wäre, wenn nicht alles, was öffentlich eigentlich investiert werden müsste, seit Jahren dem Kürzungsdruck unterläge, wie dies in den vergangenen Jahren der Fall war. Und dann wäre es besser, nicht einfach abzuwarten, ob es womöglich doch nur ein tragischer Einzelfall war. Nicht nur für Italien, sondern auch für uns.
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Die neue Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).