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Thomas Fricke: Italien-Panik – Habt ihr noch alle Espresso-Tassen im Schrank?

20. Oktober 2018

Die liberalen Demokratien stecken in einer historischen Krise – und unsere Stabilitätsapostel streiten mit Italien über das Komma beim Staatsdefizit. Ein Schulden-Drama nach deutschem Drehbuch.

Manchmal könnte man das Gefühl haben, der eine oder andere bei uns entwickelt eine gewisse Freude, wenn er anderen Ländern verdeutlicht, dass sie nicht so gut sind wie wir Deutschen. Und wenn dafür der Grieche gerade nicht zur Verfügung steht, macht sich der Italiener auch immer prima als Objekt, das man belehren kann.

Nur so lässt sich wahrscheinlich der Eifer erklären, mit dem deutsche Chefschreiber und Politvertreter in diesen Tagen über das herziehen, was die rechts-links-populistische Regierung in Rom als Staatshaushalt vorgelegt hat. Dabei legitimiert das nüchtern betrachtet alles Mögliche – aber keine Panik, dass Italien jetzt pleitegehen könnte oder uns der Untergang droht.

Es sei denn, man nährt mit fahrlässig-grotesken Drameneinlagen die Panik der hibbeligen Leute vom Finanzmarkt.

Das tiefere Drama ist ja weniger, dass eine populistische Regierung Versprechen umsetzen will, für die sie demokratisch gewählt worden ist. So blöd man das findet. Sondern dass Menschen in diesen Zeiten überhaupt so verzweifelt sind, solche Polter-Regierungen zu wählen. Was wiederum wenig mit vermeintlich mangelnder italienischer Stabilitätskultur zu tun hat, sondern Teil der Krise jahrzehntelang praktizierter Globalisierung ist. Und die beschäftigt bekanntlich auch Amerikaner, Briten, Franzosen, Niederländer und Bayern derzeit. Um nur ein paar zu nennen.

Was es als umso irrer erscheinen lässt, die Folgen mit Stabilitätspredigten zu kontern und darauf zu pochen, Defizit-Versprechen einzuhalten, die spektakulär abgewählte Regierungen in Rom in alten Zeiten mal gemacht haben. Ohnehin ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie.

Italien verstößt nicht gegen die Maastricht-Kriterien

Es hat etwas Atemberaubendes, was in diesen Tagen zu Italien in Deutschland zu lesen ist. Da wird von ungebremster Verschuldung palavert. Und von Verschwenderei. Oder vom Prassen mit Geld. Und davon, dass die Regierung Wohltaten verteilt. Klar: typisch Italiener.

Leute, habt ihr noch alle Espresso-Tassen im Schrank? Nur noch mal zur Einordnung: Die Regierung hat nur einen kleinen Teil dessen anzusetzen gewagt, was sie eigentlich vorhatte. Es geht derzeit nicht darum, dass Italiens Regierung mit ihren Plänen die Maastricht-Kriterien bricht – mit 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bliebe das Staatsdefizit nach wie vor unter der Drei-Prozent-Marke. Es hatte nur die vorherige Regierung noch versprochen, den Fehlbetrag ehrgeizig auf nur noch 0,8 Prozent zu senken. Womit Italien im internationalen Vergleich ein Musterli gewesen wäre – an zweiter Stelle der G7-Staaten hinter den Deutschen. Trumps Amerika dürfte auf das mehr als Siebenfache an Fehlbeträgen im Etat kommen.

Das lässt auch den Stoßseufzer etwas gaga wirken, dass sich, hujujuj, Italiens Staatsdefizit verdreifacht, was derzeit in jedem Wald- und Wiesenbericht notiert wird, als hätte es gerade die hohe Mathematik ergeben. Von fast nix auf etwas, was immer noch nicht dramatisch ist. Zur Veranschaulichung für den Stammtisch: Wenn jemand bisher gelegentlich ein halbes Glas Bier zu sich nimmt und die Menge verdreifacht, ist er immer noch kein Alkoholiker. Wenn er von drei auf neun Flaschen täglich geht, schon eher. Was der Italiener ja nicht tut. Alles relativ.

Italien: Eine Reform nach der anderen

Da hilft auch das Gezeter wenig, dass die Italiener doch so viele (Alt-)Schulden haben. Ist schon richtig. Nur liegen die etwa in Japan viel höher – ohne dass jemand gleich kreischt, das Land könnte pleitegehen. Dabei hat es in Japan seit Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 kein Jahr mehr gegeben, wo das Land Maastricht erfüllt hätte.

Selbst bei einem Defizit von 2,4 Prozent würde in Italien die Schuldenquote in den nächsten Jahren nicht weiter steigen, räumt Ifo-Chef Clemens Fuest ein. Nicht toll, ok. Aber auch kein Grund, von ungebremster Schluderei zu palavern.

Das Fatale ist, dass der wohlfeile deutsche Befund vom schludernden Italiener in etwa das Gegenteil von dem ist, was die Italiener seit Jahren tatsächlich erleben. Spätestens seit dem Antritt von Mario Monti 2011 folgte über sieben Jahre eine Reformregierung der nächsten.

Es wurden Renten gekürzt und Arbeitsverträge flexibilisiert. Nach OECD-Auswertungen gab es in der Zeit kaum irgendwo anders so viele Strukturreformen nach orthodoxem Lehrbuch. In keinem anderen großen Land gibt der Staat jenseits der Zinszahlungen seit Jahren weniger aus, als er von seinen Bürgern eintreibt. Was heißt, dass stetig weniger Geld an die Leute im Land geht (zumindest an die, die keine Staatsanleihen besitzen). Kein anderes EU-Land hat in den vergangenen Jahren seine öffentlichen Investitionen derart gekappt.

Genau hier beginnt das Drama. All das haben die Regierungen in Rom im Namen einer Heilslehre gemacht, nach der das Land mit jeder Entbehrung und neuen Wohltat für Wirtschaft und, na ja, Leistungsträger dynamischer werden sollte – und sich die Entbehrungen irgendwann auszahlen. Kennen wir. Spätestens seit der Zeit, als unser Gerd Bundeskanzler war.

Nur dass die neue Dynamik allen Versprechungen zum Trotz viel zu schwach blieb – auch weil dafür so viel gekürzt werden musste, was der Konjunktur nicht guttut. Dafür gibt es eine Kluft zwischen den Leuten im Land. Und was in Italien boomt, sind vor allem prekäre befristete Jobs. Was erklären könnte, warum so viele Italiener die Lust verloren haben, solche Regierungen zu wählen. Auch das ist uns ja nicht so fremd.

Solche Dramen haben zum Aufstieg der Populisten beigetragen

Es spricht viel dafür, dass das geschwundene Vertrauen in glorreiche Globalisierung und immer neue Spar- und Reformrunden zum Aufstieg der italienischen Populisten um Matteo Salvini beigetragen haben. So wie das anderswo auch der Fall ist. Wenn das stimmt, ist es nur grotesk fahrlässig, das Problem nun dadurch beheben zu wollen, die Regierungen zu noch mehr Sparen und Reformen gegen einen Gutteil der Bevölkerung zu drängen.

Das funktioniert weder in Italien noch sonstwo. Mit ähnlichem Ansatz haben Deutschlands Sozialdemokraten es hinbekommen, von einst 40 auf nun teils weniger als 10 Prozent Wählerstimmen zu stürzen. Wie die italienischen oder französischen Kollegen. Kein Zufall.

Dazu braucht man gar kein Italiener zu sein. Ist ja nicht so, als würde nicht auch in Berlin eine Regierung seit Jahren verzweifelt versuchen, die Kollateralschäden allzu rabiater Reformen und gesellschaftlicher Brüche durch zusätzliche Ausgaben, Mindestlöhne und ein früheres Renteneintrittsalter wettzumachen. Und die Italiener sollen so etwas nicht dürfen, nur weil sie Altschulden haben? Das macht es nicht besser.

All das gilt so oder so ähnlich für Briten, Amerikaner, Franzosen und Deutsche, von denen erschreckend viele derzeit dazu neigen, lieber Populisten zu wählen. Überall gibt es dieses vage Gefühl des Kontrollverlusts. Auch das wird nicht besser, wenn eine Regierung jetzt aus Brüssel (oder Berlin) nahegelegt bekommt, in etwa das Gegenteil von dem zu tun, wofür sie sich hat wählen lassen.

Klar, eine Währungsunion, in der jeder macht, was er will, würde nicht gut funktionieren. Eine Währungsunion funktioniert aber auch dann nicht, wenn in ihr eine Heilslehre durchexerziert wird, die zu einem Teil der großen Krise unserer Zeit beigetragen hat – und der auf Dauer die Glaubwürdigkeit fehlt.

Italien muss wohl tatsächlich mehr Geld ausgeben

Es spricht viel dafür, dass Italiens Regierung tatsächlich wieder mehr Geld ausgeben muss, um die Verlierer und Frustrierten der vergangenen Jahre zurückzuholen. Und um die Wirtschaft aus dem Dilemma fehlender Nachfrage im eigenen Land zu holen. Und wieder in Innovationen zu investieren.

Ohne Wachstum werden auch die Staatsdefizite nach aller Erfahrung nicht dauerhaft sinken. Wie leicht das ist, wenn die Wirtschaft einmal wieder wächst, erleben seit Jahren die Deutschen.

Alles andere ist demokratisch kaum aushaltbar.

In diesen Zeiten zunehmender Krise der liberalen Demokratien auf die Einhaltung von Kommastellen beim Staatshaushalt zu achten, ist ein bisschen so, als würde man mitten im Erdbeben darüber schimpfen, dass der Nachbar mal wieder falsch geparkt hat. Mehr noch: Es birgt, anders als im Falle des Nachbarn, die Gefahr, dass sich die Krise desaströs verselbstständigt.

Dazu in Kürze mehr.

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Die Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

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