Wirtschaftsdienst exklusiv: 12 Euro Mindestlohn? Auswirkungen und Perspektiven
In der Mai-Ausgabe des Wirtschaftsdienst diskutieren Thorsten Schulten und Toralf Pusch vom gewerkschaftsnahen WSI der Hans-Böckler Stiftung, wie sich eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro auswirken würde. Zunächst stellen die beiden Wissenschaftler fest, dass der Mindestlohn derzeit kein existenzsichernder Lohn sei, obwohl das Mindestlohngesetz genau dies fordere. Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums haben ergeben, dass bei 45 Beitragsjahren und 38,5 Wochenstunden ein Lohn von 12,63 Euro nötig ist, um in der Rente oberhalb der Grundsicherung zu bekommen. Außerdem sei vor allem für die großen Städte der Mindestlohn zu niedrig, um die Existenz der Arbeitenden zu sichern.
Schulten und Pusch erfassen zunächst, wie viele Beschäftigte 2017 für einen Lohn von unter 12 Euro gearbeitet haben: Je nach Datenquelle sind dies 9. bzw. 11 Mio. Beschäftigte, was 27% und 30% aller abhängig Beschäftigten in Deutschland entspricht. “Eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde […] würde noch einmal deutlich stärker in das bestehende Lohngefüge eingreifen, als die Einführung des Mindestlohns 2015, bei der ungefähr 4 Mio. Beschäftigte betroffen waren.”, konstatieren Schulten und Pusch. Außerdem merken die Wirtschaftsdienst-Autoren an, dass eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro auch erhebliche Auswirkungen auf bestehende Tarifverträge haben würde. So lagen 2019 ein Fünftel aller Lohngruppen in Tarifverträgen unterhalb von 12 Euro. Allerdings ist die Tarifbindung im Niedriglohnbereich gering: Im Lohnsegment unter 12 Euro sind lediglich ein Drittel der Beschäftigten tarifgebunden, oberhalb sind es 60 %. “Die sehr geringe Tarifbindung im Niedriglohnsektor unterstreicht einmal mehr die Wichtigkeit des gesetzlichen Mindestlohns, da ansonsten die betroffenen Beschäftigten ohne jeglichen Lohnschutz ausgestattet wären.”, geben die Wissenschaftler des WSI zu bedenken.
Wie würde sich ein Mindestlohn von 12 Euro nun auswirken? Die Autoren erinnern zunächst an die Diskussion vor Einführung des Mindestlohns, in denen vielfach vor deutlich höherer Arbeitslosigkeit gewarnt wurde, die nach Einführung des Mindestlohns jedoch nicht zu beobachten war. Heute vertreten Kritiker eines deutlich höheren Mindestlohns oft die Position, dass die negativen Beschäftigungseffekte erst ab einer gewissen Höhe entstehen, die bei einer Höhe von 12 Euro überschritten sei. Dem halten Pusch und Schulten entgegen, dass es beim Mindestlohn nicht auf die absolute Höhe ankomme, sondern auf das Verhältnis von Lohn zu Preis. Außerdem unterstreichen sie die zu erwartenden positiven Effekte auf die Binnennachfrage: “Eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro wäre in Deutschland mit erheblichen Einkommenszuwächsen im unteren Lohnsegment und einer entsprechenden Ausdehnung der privaten Konsumnachfrage verbunden […]. Um mögliche Friktionen zu vermeiden, wäre zudem die Anhebung des Mindestlohns so zu gestalten, dass sie den Unternehmen genügend Zeit lässt, sich auf die neue Mindestlohnhöhe einzustellen.”
Mit Blick auf die Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland kommen Pusch und Schulten zu dem Ergebnis, dass der Mindestlohn erst 2033 über 12 Euro stehen würde, wenn das jetzige Verfahren zur Anpassung des Mindestlohns nicht geändert würde. Daher kommen sie zu folgendem Ergebnis: “Im Rahmen der derzeitigen regulären Anpassungsverfahren ist eine strukturelle Erhöhung des deutschen Mindestlohns auf ein existenzsicherndes Living-Wage-Niveau kaum möglich. Hierzu bedarf es einer außerordentlichen Anhebung durch die Politik, die im Hinblick auf das Ziel von 12 Euro auch zeitlich gestreckt […] in mehreren Schritten erfolgen könnte.” Thorsten Schulten und Toralf Pusch sehen für die 2020 vorgesehene Evaluation des Mindestlohns die Chance, das gegenwärtige Anpassungsverfahren weiterzuentwickeln.