Thomas Fricke: Postenkampf in Brüssel – Warum nennen wir die EU nicht gleich Deutsch-Europa?
Lange galt, dass die Franzosen in Brüssel alles Mögliche besetzen. Mittlerweile sind wir Deutschen dabei, Anspruch auf so ziemlich alle Posten in der EU zu erheben. Ein gefährlicher Trend.
Wir Deutschen haben es in Europa nicht immer einfach. Seit zwanzig Jahren gibt es den Euro, und wir haben kein einziges Mal den Chef der Europäischen Zentralbank(EZB) gestellt. Und den letzten deutschen Präsidenten der EU-Kommission gab es irgendwann Ende der Sechzigerjahre. Da gab es noch nicht mal Handys. Höchste Zeit, den Zustand zu beheben.
So oder so ähnlich klingt, was unsere Kanzlerin mit patriotischem Pathos ausgegeben hat: dass bei der für Sonntag geplanten Gipfel-Entscheidung wenigstens einer der beiden gerade zu besetzenden Topposten an einen Deutschen gehen muss. Was anhand oben erwähnter Fakten natürlich auch zwingend erscheint.
Jetzt wollen wir unserer Kanzlerin bei den Gipfel-Verhandlungen nur Gutes wünschen. Könnte allerdings sein, dass nicht jeder in Europa uns anno 2019 noch so richtig zu bemitleiden bereit ist. Um es vorsichtig auszudrücken. Und nicht zu Unrecht.
Gut möglich, dass der eine oder andere beim Brüsseler Feilschen daran erinnert, warum die Deutschen bislang noch keinen Euro-Chef gestellt haben. Immerhin war das der Deal, weil ja die Euro-Notenbank schon nach Bundesbank-Vorgaben konzipiert war, der Sitz in die deutsche Stadt Frankfurt am Main gelegt worden war – und der erste EZB-Präsident zwar nicht Deutscher war, dafür war der Niederländer von einem Deutschen währungspolitisch aber kaum unterscheidbar. Hätte er einen deutschen Pass gehabt, hätte man die Sache gleich Bundesbank für alle nennen können.
Der damalige Kanzler Helmut Kohl ließ zur Sicherheit trotzdem noch dafür sorgen, einen Deutschen zum Chefvolkswirt der EZB zu machen – Otmar Issing. Der wiederum bestimmte für acht Jahre die Strategie der Bank mit. Und auf ihn folgte, raten Sie mal: ein Deutscher. Hatten wir erwähnt, dass in diesen Ur-Eurojahren bei der EU-Kommission ein Deutscher die Generaldirektion für Wirtschaft leitete – die, die über die Politik von Regierungen wachte?
Als bei der EZB der Niederländer Wim Duisenberg ging, folgte ein Franzose, also Jean-Claude Trichet, der allerdings eher als so eine Art deutschester Franzose gehandelt wurde, wenn es um Geldpolitik ging. Ähnlich wie sich in Italien der zwischenzeitliche EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti als deutscher Italiener veralberte.
Phänomenale Deutschenvermehrung in Spitzenpositionen
Jetzt könnte man sagen, dass das alles ja schon eine Weile her ist – sodass jetzt mal ein Deutscher EU-Kommissionschef oder EZB-Präsident werden muss. Möglich sogar, dass die Deutschen damit locker durchkämen – wenn es nicht in der Zwischenzeit eine geradezu phänomenale Deutschenvermehrung in etlichen anderen Spitzenpositionen gegeben hätte – und zwar seit Beginn der Eurokrise. Weil die Deutschen das Geld geben. Oder so.
- Von einem Deutschen wird seit Jahren der riesige Euro-Rettungsfonds ESM gemanagt: Klaus Regling, der qua Amt möglicherweise wichtigste Mann in der kommenden Krise. Das ist der, der lange Jahre die EU-Wirtschaftsabteilung geführt hat.
- Bei der Europäischen Investitionsbank (EIB) steht mit Werner Hoyer ebenfalls einer aus Deutschland an der Spitze.
- Die Chefin des Europäischen Bankenabwicklungsfonds ist: eine Deutsche – Elke König.
- Und der Präsident des Europäischen Rechnungshofs heißt Klaus-Heiner Lehne – aus dem Land, nach dem sein Name klingt.
Anderswo besetzten die Deutschen mittlerweile die noch wichtigeren Positionen in zweiter Reihe, unkt der langjährige französische Brüssel-Korrespondent Jean Quatremer:
- Als oberster Beamter der EU gilt der Generalsekretär der Kommission: Martin Selmayr, aus Sie-wissen-schon.
- Im EU-Parlament heißt der Generalsekretär Klaus Welle.
- Und die Generalsekretärin beim Europäischen Auswärtigen Dienst ist Helga Schmid. Germany.
- Die wichtigste Fraktion im Europaparlament wird derweil seit Jahren von einem Landsmann geleitet, das Parlament lange Zeit von einem gewissen Martin Schulz.
- Selbst der Noch-Kommissionschef Jean-Claude Juncker aus dem schnuckeligen Luxemburg wäre das nicht geworden, so Quatremer, wenn er nicht von der deutschen Kanzlerin dort hingeschickt worden wäre.
Es gehört ein ausgeprägtes Verständnis von der Selbstverständlichkeit Deutscher in Spitzenjobs dazu, jetzt noch einen EU-Kommissionschef aus Germany einzufordern. Oder einen deutschen Chef für eine in Deutschland sitzende Notenbank mit quasi-deutschen Statuten. Warum die EU dann nicht gleich in Deutsch-Europa umbenennen? Oder Deutsch-Brüssel?
Es spricht ja nicht unbedingt alles dafür, dass die Deutschen im Schnitt qualifizierter und geeigneter als Menschen aus den 27 anderen Ländern sind, um Chef der Europäischen Investitionsbank, des Europäischem Bankenabwicklungsfonds, des Europäischen Rechnungshofs, der Europäischen Volkspartei, von diversen Generalsekretariaten und Rettungsfonds sowie der Euro-Zentralbank und ihren wichtigsten Abteilungen zu sein.
Im Gegenteil. Immerhin hat die deutsche Sicherheitsbesetzung der ersten Eurojahre nicht verhindert, dass die Eurozone so dramatisch in die Krise geraten ist. Umgekehrt gilt mittlerweile als ziemlich sicher, dass (erst) der Italiener Mario Draghi dafür sorgte, die Krisenspirale zu stoppen. Eindeutig kein Deutscher. Fatal: Der aktuelle deutsche Wunschkandidat für die Nachfolge – Jens Weidmann – war damals gegen all das, was heute als Rettungstat gilt.
Selbst für die Deutschen ist ein Deutscher nicht immer das Beste
Kein Land hat so sehr bestimmt, welche Lehren aus der Eurokrise zu ziehen sind – und wie, sagen wir, der traurige Stabilitätspakt zu reformieren ist. Kaum ein anderes Land hat sich trotz offenbarer analytischer Mängel so viel Mitsprache einräumen lassen, zu bestimmen, wer in der nächsten Krise Rettungsgeld kriegt – und unter welchen Bedingungen. Ein Glück, dass das nicht alle Parlamente eingefordert haben. Dann könnten wir die Krise gleich durchlaufen lassen.
All das spricht für alles – nur nicht dafür, den anderen Staaten derzeit großen Druck zu machen, dass jetzt mal endlich ein Deutscher als EU-Kommissons-Chef oder EZB-Chef dran ist. Womit wir beim eigentlichen Problem sind. Das werden die anderen dem eigenen Volk nicht mehr lange erklären können. Zugunsten der Populisten dieser Länder. Und: Selbst für die Deutschen ist ein Deutscher nicht immer das Beste, wenn er nicht die richtigen Antworten auf Krisen hat. Wäre Jens Weidmann 2012 Chef der Euro-Notenbank gewesen, wäre die Krise hochwahrscheinlich eskaliert. Das wäre für die Deutschen viel teurer geworden.
Was lernen wir daraus? Vielleicht ließe sich neben dem Kriterium Ich-bin-deutsch ja noch das eine oder andere fachliche Argument berücksichtigen, wenn in der Nacht von Sonntag auf Montag um die Besetzung so wichtiger EU-Posten für die nächsten Jahre gerungen wird. Nur mal so als Anregung. Und zum Wohle aller.
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Die Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).