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Thomas Fricke: Zinsen, Schulden, Klima – Deutschlands fatale Schönwetter-Haltung

21. September 2019

Bloß keine Schulden, mehr Zinsen für Sparer und bitte nur leicht höhere Preise fürs Klima: Deutschland hat eine Menge Schönwetterideen – und keine davon passt zu den Krisen, mit denen wir es zu tun bekommen.

Als Deutschland Anfang der Nullerjahre zu kriseln begann, waren die Schuldigen schnell ausgemacht, zumindest von den damals noch handelsüblichen Ökonomen und Industrievertretern: die Deutschen ganz allgemein – zu faul, zu träge, zu wenig bereit, sich zu ändern und auf Neues einzulassen.

Jetzt beginnt es in Deutschland wieder zu kriseln. Und der Verdacht scheint für manchen wieder nahezuliegen: Die Deutschen sind einfach in den vergangenen Jahren zu sehr verwöhnt worden – von den bösen Wohltaten der Großen Koalition.

Dabei könnte das Problem diesmal gerade bei jenen liegen, die solche Sachen aus alten Zeiten sagen; aus einer Zeit, in der die Standardantwort auf so gut wie alle Probleme der Menschheit lautete, die Sache doch bitte Märkten und Konzernen und Banken zu überlassen – und ansonsten vor allem darauf zu achten, dass bloß keiner zu träge und zu teuer wird (außer sie sind Banker oder Vorstände oder so).

Das passt einfach nicht mehr zu den Problemen, die wir heute haben, wo besagte deutsche Problemlöser im Ausland für so manche bizarre Haltung schon verspottet werden, ob beim Gezeter über Nullzinsen und beim Hochhalten der mysteriösen schwarzen Null oder wenn es um CO2-Preisgestaltung gegen den Klimakollaps und die Frage geht, ob in Deutschland denn wirklich Reich und Arm auseinander driften.

Von wegen Zinsvampir

Von außen wirkt es befremdlich, wenn in Deutschland unter lautem Getöse von Banken und „Bild“-Zeitung allen Ernstes über Nullzinsen geschimpft wird, als kämen die vom Italiener. Also von Mario Draghi beziehungsweise Graf „Draghila“, der Deutschlands arme Sparer aussauge, wie das Wirtschaftsnobelkomitee der „Bild“ in gewohnt gewissenhafter Ursache-Wirkungs-Analyse herausbekommen hat. Wobei ein Blick in gängige Zinsstatistiken gereicht hätte, um das als ziemlich bescheuerte Thesen auffliegen zu lassen. Die Zinsen sind ja eigentlich überall mehr oder weniger ähnlich niedrig, weil einfach zu viel gespart wird – und weiterführende Analysen legen nahe, dass sich das nur dann ändern würde, wenn die Regierungen ordentlich Geld ausgäben. Aber dafür ist man in Deutschland ja auch nicht so richtig zu gewinnen. Nächstes Drama.

Es ist für die internationale Fachwelt zunehmend schwer nachzuvollziehen, warum Deutschlands Volksvertreter nicht längst richtig große Summen in Investitionen gesteckt haben. Wenn es in Deutschland einen so offenbaren dramatischen Bedarf gibt, Bahn, Schulen, Kinderbetreuung oder Telefonnetze zumindest einmal auf den Stand des 21. Jahrhunderts zu bringen – und die Regierung das Geld dafür derzeit gratis aufnehmen kann oder sogar eine Belohnung dafür kriegt, wenn sie sich verschuldet – Stichwort Negativzinsen.

Wer sich heute durch Paris bewegt, wird das Gefühl nicht los, dass die Franzosen ein paar Jahre weiter sind – mit Metro-Apps, die einem gleich ausrechnen, wie viel CO2 man bei verschiedenen Verkehrsmitteln braucht; und wie schnell man alternativ mit dem Rad am Ziel wäre. Bei der App der Berliner Bahnen funktioniert seit geraumer Zeit die elektronische Zahlungsfunktion nicht mehr.

Das ist ökonomisch ziemlich irre, wenn mittlerweile 68 Prozent der Firmen in Deutschland sagen, dass ihre Produktion durch den schlechten Zustand der Infrastruktur im Land behindert wird. Erst recht, wenn es mittlerweile etliche Studien gibt, in denen Experten berechnet haben, wie schnell etwa der Bund sein Geld zurückbekäme, weil die Investitionen zu mehr Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Jobs führen würden – also zu mehr Steuereinnahmen. Stattdessen pflegen die Deutschen einen ulkigen Hang zur Romantik der schwarzen Null und der Schuldenbremse. Als würde das irgendein Problem lösen.

Was für ein Blödsinn. Für den jüngsten Rückgang der Schuldenquote hätte es die Schuldenbremse gar nicht gebraucht; dafür bedroht sie jetzt den Investitionsschub, wo dieser nötig wäre.

Viel Glück!

In fast allen reicheren Ländern gibt es mittlerweile ziemlich ernste Debatten darüber, wie sich der gesellschaftlich gefährliche Trend zum Auseinanderdriften von Einkommen und Vermögen stoppen ließe. In Deutschland pflegt man noch zu zweifeln, ob das mit dem Gefälle denn überhaupt so ist, wo doch die Ungleichheit seit 2005 gar nicht mehr gestiegen ist. Was einerseits nicht ganz stimmt – und andererseits eine irre Beschönigung ist. Das Drama liegt ja darin, dass in Deutschland selbst nach zehn Jahren Dauerwachstum und Abbau von Arbeitslosigkeit die Ungleichheit nicht abgenommen hat, sondern eher noch gestiegen ist. Das ist alles, nur kein Wohlstand für alle, wie ihn der gute Ludwig Erhard mal versprochen hatte.

Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, was passiert, wenn die nächste Krise kommt und die Betuchteren wie meist eher gut davonkommen, die Erbengeneration schön weiter erbt, während 40 Prozent der Leute im Land so gut wie nichts an Vermögen haben – und das Auseinanderdriften dann kaum noch zu stoppen ist. Viel Glück, Deutschland.

Und das schöne neue Klimapaket, das gerade frisch verhandelt wurde? Klingt toll – könnte sich aber in die Reihe der Warnsignale einreihen. Wenn maßgebliche Teile der Regierung als Antwort auf die drohenden Klimadramen darauf setzen, dass sich das Problem über den ollen Handel mit CO2-Zertifikaten und (ein bisschen) höhere Preise für klimaschädliche Dinge lösen lässt, drängt sich der Verdacht auf, dass da die mögliche Dringlichkeit vielleicht doch noch einen Hauch unterschätzt wird.

Wenn’s schlecht läuft, werden höhere Preise auf dicke Autos oder aufs Fliegen gar nicht viel am Verhalten derer ändern, die davon betroffen sind, aber genug Geld haben, um deswegen jetzt nicht gleich ihren Lebensstil zu ändern. Wenn’s gut läuft, kommt so eine Verhaltensänderung über Preissignale erst ziemlich langsam. Und womöglich zu langsam. Wobei die Preiskeule ohnehin erst Sinn ergibt, wenn genügend bezahlbare Elektro- und andere Transportmittel angeboten werden. Wofür es wiederum sehr viel mehr Investitionen in die E-Infrastruktur oder Bahnnetze geben müsste.

Geht ja nicht. Weil, siehe oben: schwarze Null und Schuldenbremse. Deutschland spezial.

Sicher, auch andere Länder haben Zeitungen mit Potenzial nach oben, wenn es ums Analysieren geht (sonst wären die Briten jetzt wahrscheinlich nicht so tief im Brexit-Mist). Und auch anderswo gibt es Ökonomen mit ausgeprägter Dogmentreue und Hang zu überholten Ideen. Es drängt sich nur der Verdacht sich auf, dass das bei uns derzeit einfach ziemlich einzigartig geballt auftritt. Und fatal. Und dass ein maßgeblicher Teil der öffentlichen Wahrnehmung irgendwie noch in alten Schönwetterzeiten zu stecken scheint. Als es weder zunehmend drastische Reich-Arm-Gefälle und damit verbundene Populismus-Schübe, noch Niedrigzinsen oder drohende Klimakrisen gab. Und als absurde Dinge erfunden wurden wie die schwarze Null oder Schuldenbremse, die uns in der Jetztzeit darin behindern, Politik für künftige Generationen zu machen.

Wenn die Zinsen so pathologisch niedrig sind, ist das ein Warnsignal dafür, dass etwas im Finanzsystem nicht stimmt – und nicht, dass der Draghi böse ist. Wenn bei anhaltendem Investitionsbedarf lieber schwarze Nullen eingefahren werden, stimmt etwas mit dem Ökonomieverständnis nicht. Und wenn nach wie vor schöngeredet wird, wie Reich und Arm auseinandergedriftet sind, ist auch das ein Alarmsignal dafür, wie schlecht wir auf die nächsten großen Krisen vorbereitet sind.

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Die Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

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