Von wegen „blühende Landschaften“ – die Deutsche Einheit ist zum Desaster geworden. Aussprechen will das in der Politik vor lauter Staatsräson aber kaum jemand. Die Quittung kommt jetzt, bei den Wahlen.
Thomas Fricke: Ostdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall – Ist doch alles echt super gelaufen
Immer wenn in Deutschland die Einheit vorbeikommt, also einmal im Jahr, sagen meist westdeutsche Politiker so Dinge wie, dass das so ein Glück sei. Und dass das mit dem Vereinigen doch eigentlich ganz toll gelaufen sei in den vergangenen fast 30 Jahren. Und dass doch viele Straßen ganz schön geworden sind. Solche Dinge sagen die dann. Leute wie Wolfgang Schäuble. Der das auch dieses Jahr wieder in etwa so gesagt hat, als die Einheit am Donnerstag vorbeikam.
Nun sind solche Appelle an die Staatsräson natürlich immer gut gemeint. Eine Gesellschaft braucht zum Funktionieren Dinge, an die alle in etwa glauben. Doch bei uns in Deutschland gibt es einen befremdlich ausgeprägten Hang, vor lauter Staatsräson Dinge zu verklären und tabuisieren. Wie teuer so etwas werden kann, ist an den politisch desaströsen Folgen einer – in Wahrheit ja ziemlich dramatisch daneben gegangenen – Vereinigung zu beobachten.
„Ihr wollt jetzt doch nicht sagen, dass ihr nicht glücklich seid“
Natürlich war es komplett irre, was den Ostdeutschen nach der Vereinigung menschlich zugemutet wurde – mehr als ein Jahrzehnt Massenarbeitslosigkeit, die weitgehende Entwertung von Biografien, egal wie viel davon noch hätte gerettet werden können, wenn der wirtschaftliche Schock nicht so ungebremst über Ostdeutschland hergegangen wäre. Und der stete Verweis der lieben Mitdeutschen aus dem Westen, jetzt aber bitte nicht undankbar zu sein. Und dass das ja alles ein großes Glück gewesen sei. Und dass man ja wohl die Mauer nicht wiederhaben wolle.
Als hätte es zwischen Einheitsdesaster und Wiederaufbau der Mauer keine andere Möglichkeit gegeben.
Wolfgang Schäuble, mittlerweile Bundestagspräsident, postuliert selbst anno 2019 noch wie unbekümmert, dass es keine bessere Form der Wiedervereinigung hätte geben können. Das ist eine absurde These. Es hätte womöglich hundert andere Varianten gegeben. Nur kam es nie dazu, diese ernsthaft zu erwägen. Staatsräson. Weil vorher meist ein „Ihr wollt jetzt doch nicht sagen, dass ihr nicht glücklich seid“ entgegengeschleudert kam. Totschlagsargument.
Was so ein ausgewachsenes Tabu in der Regierungspolitik anrichten kann, ist in den östlichen Glücksgebieten gerade eindrucksvoll zu beobachten. Erstens gibt es kaum einen Wohlstands- oder Wirtschaftsindikator, der im Osten dreißig Jahre nach dem Mauerfall nicht noch mehr oder weniger deutlich schlechter ausfällt als im Westen. Zweitens verläuft auf dem früheren Grenzstreifen auch heute noch eine politische Trennlinie – und das nicht erst seit die AfD im Osten auf 20 bis fast 30 Prozent kommt, wovon sie im Westen weit entfernt ist. Und: Dass beides so ist, scheint auch kein Zufall zu sein.
Es gibt mittlerweile vermehrt Studien, die darauf hindeuten, dass politischer Unmut und Aufstieg populistischer Parteien über Grenzen hinweg auffällig oft gerade in solchen Regionen passieren, in denen die Menschen mit wirtschaftlichen Brüchen konfrontiert und alleingelassen wurden. Das gilt für den Rust Belt in den USA sowie für heruntergekommene Regionen in Großbritannien, in denen überdurchschnittlich viel für den unsinnigen Brexit gestimmt wurde. Es gilt nach allem, was neuere Studien zeigen, auch für Deutschland – und für den Osten. Es könnte sogar der Hauptgrund dafür sein, dass es im Osten so viel mehr Potenzial für Menschenfänger wie die Leute von der AfD gibt als anderswo. Nicht weil das mit dem Ostdeutschsein oder so zu tun hat.
Den Glauben an Demokratie und soziale Marktwirtschaft verloren
Diesen Schluss legen auch die jüngsten Auswertungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung nahe, laut denen die AfD bei den Europawahlen im Frühjahr vor allem in jenen Regionen gewann, in denen strukturelle Probleme mit dem Abwandern von frustrierten jungen Menschen zusammenfallen – und weiter Jobverluste drohen. Was wegen der desolaten Vereinigung halt besonders oft im Osten der Fall ist.
Die Ergebnisse bestätigen frühere Studien, wie etwa die des Kieler Ökonomen Robert Gold oder des Düsseldorfer Kollegen Jens Südekum. Auch ihnen war bei Auswertung von Wahlergebnissen aufgefallen, dass es just in den Regionen fast systematisch stärkeren Zulauf für Rechtsparteien gibt, in denen die Menschen von Globalisierungsschocks getroffen wurden.
Die Ostdeutschen wurden gleich zweimal von großen Strukturbrüchen heimgesucht: direkt nach der Einheit – und dann nochmal, als Ende der Neunzigerjahre die Konkurrenz aus Osteuropa oder China viele deutsche Standorte unter Druck setzte. Das ist der Hintergrund, vor dem man die Potenziale politischer Protestparteien heute sehen muss.
Wenn das stimmt, ist es absurd, selbst im Jahr 30 nach dem Mauerfall noch zu lobhudeln, wie toll die Sache gelaufen ist. Dann wäre es viel früher nötig gewesen, das Tabu in den Regierungsparteien zu brechen – und ernst zu nehmen, wie dramatisch es im Osten schiefläuft. Was helfen die schönen Straßen, wenn die Leute 30 Jahre nach dem Mauerfall zu großen Teilen den Glauben an Demokratie und sozialer Marktwirtschaft verloren haben – und weite Teile politisch gerade ins Chaos zu driften drohen?
Es wäre schön, solche Fälle künftig zu vermeiden. Potenzial für neue Katastrophen gibt es genug. Wie, sagen wir, die heilige schwarze Null, die ebenfalls zum großen Glaubensbekenntnis geworden ist – und jetzt eher Probleme bereitet, als sie zu lösen, weil es in konjunkturellen Krisen einfach nicht gut ist, krampfhaft an so einem Haushalt festzuhalten. Anderes Thema. Wir kommen darauf zurück.
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Die Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).