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Thomas Fricke: CDU-Parteitag – Ohne Merkel droht das SPD-Schicksal

22. November 2019

In der Krise erfasst die Union eine kuriose Nostalgie – die Partei müsse wieder für Marktwirtschaft stehen wie einst 2003 in Leipzig. Eine schräge Gedankenirrung.

Es klingt fast wie früher. Die Steuern – zu hoch. Sozialabgaben – auch. Und die Energiepreise erst recht. Ach überhaupt, zu viel Bürokratie. Was die Deutschen brauchten, sei mal wieder richtig Marktwirtschaft. Anders als bei der ollen Kanzlerin.

Gemeint ist der – unter Freunden marktwirtschaftlicher Träume legendär gewordene – Parteitag in ebendiesem Leipzig anno 2003. Da hatte Angela Merkel zu einer Art Kopie der eisernen Margaret Thatcher angesetzt – und „das marktradikalste Programm der Parteigeschichte“ („Rheinische Post“) beschließen lassen.

Dabei ist näher betrachtet nicht ganz klar, was an 2003 zum realpolitischen Erfolgsbeispiel taugt. Möglich sogar, dass das, was die Union damals als Wirtschaftsprofil feierte, heute noch weniger ziehen würde als damals ohnehin schon. Und dass eine solche CDU nach Merkel bald wirklich versozialdemokratisieren würde. In Umfragen.

Raute statt Rabiatprogramm

Damals – mitten in Deutschlands wirtschaftlicher Dauerkrise und kurz nach Gerhard Schröders Agenda-2010-Rede – gab Merkel sich als noch viel konsequentere Reformerin des Sozialstaats. Auf dem Vereinstreffen wurde Friedrich Merz‘ Vorschlag für ein radikal neues Drei-Stufen-Steuersystem zum Programm. Ebenso wie die Einführung einer Kopfpauschale, also die Abschaffung der solidarischen Krankenversicherung. Und die Rente mit 67.

Der kleine Haken daran: Merkel hat das Rabiatprogramm nie so umgesetzt, sondern auf Raute und weitgehenden Reformstopp umgestellt, als bei der Wahl 2005 klar wurde, dass die eiserne Rethorik nach drei Jahren Schröder-Schweiß-und-Tränen im Land eher abschreckend ankam.

Trotz Schröders Absturz schrammte Merkel mit Leipzig-Programm im September 2005 knapp daran vorbei, doch nicht zur Kanzlerin gewählt zu werden und musste stattdessen GroKo machen. Was bei ihr jene mittlerweile sehr viel legendärer gewordene Bereitschaft aktivierte, die eigene Haltung in solchen Fällen regelmäßig den Volksstimmungswerten anzupassen.

So ließ Merkel Ende 2005 in Brüssel Ausnahmen vom Stabilitätspakt erlauben, um das Staatsdefizit eben doch nicht mit der Brechstange zu reduzieren – nachdem sie in Leipzig noch gegen die Ausnahmen geschimpft hatte, die ihr Vorgänger einst einräumen ließ. Dafür gab’s ein Ausgabenpaket, um die Konjunktur erst mal ins Laufen zu bringen.

Ein bisschen Rente

Große Reformen? Och, nö. Unter der echten Merkel gab es bis heute weder die radikale Steuerreform noch das Aus der solidarischen Krankenversicherung. Nur die Rente mit 67 kam irgendwann einmal – in Einigkeit mit den gescholtenen Sozis – mit etlichen Korrekturen zurück. Stichwort Rente mit 63 für Langzeitmalocher. Oder Mütterrente.

Schwer zu belegen, was passiert wäre, wenn Merkel am gelobten Wirtschaftsprofil festgehalten hätte. Auch die Wirtschaft hat’s ohne Wirtschaftsprofil der Kanzlerin recht gut ausgehalten – und den längsten Aufschwung seit Langem gekriegt. Ganz ohne Radikalgedöns.

Es spricht einiges dafür, dass genau ein solches heute noch weniger wirken würde, als es das damals getan hätte. Wenn die deutsche Wirtschaft 2019 so abrupt zu schwächeln begonnen hat, dann ja nicht ernsthaft, weil es über Nacht zu viel Bürokratie oder Steuern gibt. Oder zu wenig Anreize zu arbeiten. Es wird so viel gearbeitet wie nie. Dann liegt das wohl eher an den Wirren von Donald Trump, unseren Freunden von der Brexit-Insel – oder den Versäumnissen der Autobranche.

Revival des Marktgeplappers?

Wenn etwas fehlt, sind es eher Fachkräfte – die nicht entstehen, wenn man Steuern senkt oder Vorschriften lockert; oder Investitionen in die Infrastruktur, die über Jahre ausgeblieben sind, wie selbst der Bundesverband der Deutschen Industrie eindrucksvoll bemängelt; oder flexiblere Etatregeln, die auf Dauer wieder mehr öffentliche Investitionen ermöglichen könnten.

Ob also ein Revival des Marktgeplappers noch in die Zeit passt, lässt sich ohnehin bezweifeln. Selbst die Orthodoxeren unter den Professoren im Sachverständigenrat räumen mittlerweile ein, dass es in schwierigeren Zeiten keinen Sinn ergibt, an der schwarzen Null festzuhalten. Anders als es der ökonomisch leicht irrlichternde Wirtschaftsrat der CDU unbeeindruckt vom Stand der Ökonomie weiter tut.

Inzwischen gibt es selbst (und gerade) in den einst als marktwirtschaftlich vorbildlich geltenden USA und Großbritannien Konsens darüber, dass allzu viel marktliberaler Eifer zum dramatischen Auseinanderdriften von Reich und Arm beigetragen hat. Mit Poltern gegen Bürokratie und Steuerlast wird sich schließlich auch die Klimakrise nicht mehr abwenden lassen.

Es spricht das eine oder andere auch dafür, dass all das im deutschen Volk heute ähnlich gesehen wird. In Umfragen sagen 80 Prozent der Leute, dass die Privatisierung von staatlichen Leistungen zu weit gegangen ist. Und dass bei uns der lange praktizierte soziale Ausgleich nicht mehr funktioniert. Oder dass die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen den Zusammenhalt der Bevölkerung zunehmend gefährdet. Solch Volkes Meinung zu ignorieren, erschiene für eine Partei, die ganz gern Volkspartei bleiben will, nicht zwingend zweckdienlich.

Klar, Angela Merkel hat es verpasst, eine Menge zu tun. Was sie jedoch nicht nachholen sollte, ist noch zu einer späten Kopie von Thatcher zu werden. Oder ein Revival von Leipzig 2003 zu lancieren.

Das Gegenteil von marktradikal

Das Experiment zu wiederholen, würde den Volksnerv heute in etwa so gut treffen wie Messi beim Elfmeter das Stadiondach. Verpasst wurde eher die Chance, das Land mit einer richtig großen Investitionsinitiative zu begeistern, von der jeder etwas hätte: ob besseren Handy-Empfang, ein klasse Bahnnetz oder schickere Schulen. Eher das Gegenteil von marktradikal – eher die Korrektur von immer noch zu viel Markt.

Wenn die Union nach 14 Jahren Merkel-Kanzlerschaft schwankt zwischen sachten Korrekturen à la AKK und Rückkehr zu etwas, was in der Praxis nie bestanden hat, vermittelt das die Souveränität und Analysetreffsicherheit, die wir in den vergangenen Jahren eigentlich eher von der SPD kannten.

Und wir wissen ja, was aus der geworden ist.

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Die Kolumne „Die Rechnung, bitte!“ erscheint seit dem 15. April 2016 im wöchentlichen Rhythmus auf Spiegel Online (SPON).

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