Experten warnen, auf die steigenden Corona-Fälle dürfe jetzt bloß nicht ein weiterer Lockdown folgen. Sonst drohe wirtschaftlich die Katastrophe. Das ist ein Missverständnis.
Thomas Fricke: Corona und Wirtschaft – Die Lockdown-Hysterie
Die Sachlage scheint klar. Wenn die Wirtschaft in den vergangenen Monaten derart historisch eingebrochen ist, liegt das daran, dass die Regierung zur Hochzeit der Corona-Pandemie Geschäfte schließen und Zwischenmenschliches auf kernfamiliäre Angelegenheiten reduzieren ließ. Die Frage ist offenbar nur, ob das nötig war – oder fahrlässig bis bösartig überflüssig, wie es gelegentlich auf Berliner Ausfallstraßen geäußert wird.
Und wie es wieder relevant zu werden scheint, spätestens seit diese Woche erstmals mehr als 1000 neue Corona-Fälle an einem Tag gemeldet wurden. Seit die Zahlen wieder steigen, ist nicht nur aus dem einschlägig veganen Umfeld so eine Art, sagen wir, Unbehagen über alte und womöglich neue Beschränkungen zu vernehmen. Auch Ökonomen geben seit Tagen wieder Warnung, so ein neuer Lockdown würde die Wirtschaft endgültig ruinieren.
Gar nicht auszudenken. Also: bloß nicht wieder einschränken?
Jetzt gibt es sicher gute Gründe für die Sorge vor den ökonomischen Folgen eines erneuten Hochs in der Corona-Pandemie – schon weil viele Firmen das erste noch nicht wirklich überwunden haben. Nur lassen neue Auswertungen zur Frühjahrskrise vermuten, dass die Schwere der wirtschaftlichen Schäden gar nicht davon abhängt, ob es nun starke amtliche Kontaktbeschränkungen gibt oder nicht. Ein Befund, der nicht nur für diejenigen ganz wichtig ist, die den Mundschutz als Wiederbeginn der Diktatur im Land einstufen.
Ob die wirtschaftliche Krise ohne Lockdowns deutlich geringer ausgefallen wäre – oder nicht -, lässt sich auf Anhieb schwer bestimmen. Dafür fehlt der real messbare Vergleich. Dass die Wirtschaftsleistung im März in etwa zeitgleich mit den Beschlüssen der Regierung zu fallen begann, heißt ja noch nicht, dass das ursächlich an den Beschlüssen lag – oder angesichts der aufkommenden Panik ohnehin so gekommen wäre. Zumal viele Geschäfte schon in den Tagen zuvor kaum noch Besuch hatten – was eher auf die Ohnehin-so-These schließen lässt.
Eine mögliche Antwort liefern in einer kürzlich veröffentlichten Studie zwei Ökonomen von der Universität Chicago (Austan Goolsbee, Chad Syverson: „Fear, Lockdown, and Diversion: Comparing Drivers of Pandemic Economic Decline 2020“, NBER Working Paper 27432, Juni 2020). Die beiden Wissenschaftler verglichen dabei anhand von Mobilfunkdaten, wann und wie stark in unterschiedlichen Regionen in den USA von März bis Mai die Besuche in mehr als zwei Millionen Geschäften, Restaurants, Kinos und bei etlichen anderen Dienstleistern zurückgingen. Um dann zu testen, ob und inwiefern die Rückgänge gerade dort besonders stark waren, wo es regional besonders strikte Lockdowns gab.
Ganz wichtig dabei: Um auszuschließen, dass für die wirtschaftlichen Folgen irgendwelche anderen lokal spezifischen Umstände verantwortlich sind, legten Austan Goolsbee und Chad Syverson besonderes Augenmerk auf den Vergleich solcher inneramerikanischen Grenzregionen, zwischen denen die Menschen viel pendeln, die aber zu unterschiedlichen Regierungsbezirken gehören – und in denen daher unterschiedlich strenge Regeln galten.
Ergebnis: Es war fast egal, ob in den angrenzenden Gebieten hüben strenge und drüben lockere Kontaktauflagen galten – die Bewegungen nahmen in beiden jeweils ähnlich stark ab, also auch dort gelegentlich stark, wo es (im Wutbürgersprech) keine Bevormundung gab.
Angst vor Ansteckung, nicht vor dem Gesetz
Wie relativ egal die Auflagen wirtschaftlich waren, lassen Schätzungen des Obama-Beraters Goolsbee und seines Kollegen erahnen: Danach kam es in den untersuchten Branchen alles in allem zu einem Rückgang der Frequentation von 60 Prozent – wovon nur 7 Prozentpunkte auf strengere regierungsamtliche Vorgaben und Verbote zurückzuführen sind. Sprich: Fast der gesamte Einbruch wäre auch so gekommen, weil die Menschen sich offenbar auch ohne Regierungsanweisung nicht mehr in die Geschäfte trauten. Aus Angst vor Ansteckung, nicht vor dem Gesetz. Egal, was die da oben lokal beschlossen.
Oder anders gesagt: Der historische Einbruch wäre zum ganz großen Teil auch gekommen, hätte die Regierung nichts gemacht und nichts schließen lassen.
Und um dem Einwand gleich vorzubeugen: Dass die Angst so folgenschwer kursierte, scheint auch keine pure Panik oder einfach von bösen Virologen und Regierungen gesteuert gewesen zu sein. Wie Goolsbee und Syverson aus den Daten ebenfalls erkennen konnten, waren Angst und Bewegungsabnahmen immer dann und dort besonders ausgeprägt, wo in unmittelbarer Nachbarschaft gerade besonders viele Menschen an Covid-19 gestorben waren, die Gefahr sich anzustecken also besonders spürbar und real war – nachvollziehbar. Egal, ob mit oder ohne formalen Lockdown.
Mehr noch: Die Leute mieden zunehmend größere Geschäfte und Kaufhäuser, weniger die kleineren, wo die Kontaktrisiken geringer waren. Auch das spricht für eine relativ vernunftbegründete Angst, keine Hysterie.
Schlimmer war der Rückgang der Nachfrage aus dem Ausland
Es spricht einiges dafür, dass die Ergebnisse der US-Forscher auch für Deutschland gelten. Und dass die verfügten Kontaktbeschränkungen nur einen kleineren Teil jenes Einbruchs der Wirtschaftsleistung um fast zehn Prozent in diesem Frühjahr erklären. Der Großteil des Rückgangs kam ohnehin eher durch den Abbruch von Lieferketten und Nachfrage aus dem Ausland. Während die deutsche Industrie aus dem Rest der Welt selbst im Juni – mit minus 20 Prozent – noch deutlich weniger Aufträge bekommen hat als vor der Pandemie, lagen die Bestellungen aus dem Inland da sogar höher – vermutlich nicht, weil es keine Kontaktbeschränkungen mehr gibt, sondern weil angesichts gesunkener Infektionszahlen die akute Angst vor Ansteckung nachgelassen hat.
Umso kritischer ist, dass sich inzwischen wieder mehr Menschen anstecken – und die Gefahr für jeden so auch wieder zuzunehmen droht.
Für den früheren Obama-Chefberater Goolsbee und seinen Kollegen liegt in alledem auch eine politische Warnung. Wenn vor allem die Angst der Menschen zählt, könne sein, dass am Ende gerade jene Regionen wirtschaftlich am stärksten getroffen werden, die zu früh lockern – oder zu lange mit der Erneuerung von Einschränkungen warten. Auch wenn das wirtschaftlich zum Guten wie zum Schlechten nicht entscheidend ist, ist es das ja gesundheitlich womöglich schon.
Sollten die tatsächlichen Todesfälle wieder zunehmen, würde auch die Angst in den betreffenden Regionen zurückkommen – was die Geschäfte dort, wie schon von März bis Mai, besonders träfe. Scheinbar paradox: womöglich gerade da, wo es keine großen (zu wenig) Beschränkungen gibt.
Dann ist es im Zweifel besser, bei wieder stark anziehenden Infektionen etwas zu schnell dafür zu sorgen, dass die menschlichen Kontakte im Land vorübergehend zurückgefahren werden, als zu spät. Was ja nicht heißt, dass man das völlig kopflos umsetzt, wie es unsere Kanzlerin ja ohnehin eher selten überfällt. Das könnte der Wirtschaft dann sogar helfen, weil es Schäden begrenzt.
Noch mögen die Risiken nicht so groß sein. Die Auswertungen vom Frühjahr zeigen aber: Sollte die Pandemie tatsächlich wieder Fahrt aufnehmen, wird das wirtschaftlich Folgen haben – ob mit oder ohne Lockdown. Der Unterschied ist: Ohne Beschränkungen würden die Chancen nach aller uns bekannter Virologenweisheit schwinden, die Sache gesundheitlich unter Kontrolle zu halten. Was der Wirtschaftskrisenüberwindung auch nicht förderlich wäre. Besser ist, die Pandemie möglichst früh zu bremsen – und notfalls das nächste Konjunktur- und Rettungspaket auf den Weg zu bringen.
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