Wenn es etwas gibt, was die Wut der Menschen weckt, dann ist es Ohnmacht. Das könnte erklären, warum die Bundesregierung mit ihrem Kurs in der Coronakrise heute bei der großen Mehrheit im Land so gut dasteht.
Thomas Fricke: Coronakrise – Was gegen die Wut im Land hilft
Es scheint Momente zu geben, in denen durch Bilder schon mal schiefe Eindrücke von der Wirklichkeit entstehen. Wie diese Woche, in der täglich Aufnahmen zu sehen waren, in denen wütende Leute ihre Plakate mit der Kanzlerin in Haftkleidung hochhielten. Und Menschen vor Kameras kundtaten, dass wir alle von denen da oben verdingsbumst werden. Und unterdrückt. Mit Masken. Und überhaupt alles gerade ganz schlimm ist. Und die da oben bald geliefert sind.
Zu einer Zeit, in der alle möglichen Umfragen im Volk gerade eher Rekordzustimmungswerte zu besagter Kanzlerin und denen da oben ergeben. Und knapp 90 Prozent sagen, dass die Masken schön und gut sind – oder sogar noch mehr getan werden müsste.
Sind die Demonstranten dann doch nur eine Auswahl von Spinnern, die viel zu viel Aufmerksamkeit bekommen haben – und war die Berliner Demo nur so eine Art Hauptstadtgipfel der Meinungsunfälle? Möglich. Nur scheint dann doch mehr dahinterzustecken – und es bleibt die Frage, warum die Regierung gerade jetzt so populär ist. Ein Aufklärungsversuch.
Was so paradox wirkt, könnte sich als hilfreich auf der Suche danach erweisen, was gegen Wut und Unmut in diesen Zeiten wirkt, was ja nicht nur bei uns die Vorstellung von liberaler Demokratie erschüttert, sondern auch in Trumps Land, auf der Brexit-Insel und in vielen anderen Ländern heute.
Noch gilt bei uns als größte aller Wutursachen, was vor fünf Jahren passiert ist – dass plötzlich Hunderttausende Flüchtende zu uns kamen und die Regierung erst einmal hilflos wirkte. Seitdem habe die AfD an Gewicht gewonnen, dozieren Politologen. Nur: Warum gab es fast zeitgleich auch in den USA, Großbritannien, Frankreich und anderswo einen Aufschwung für Populisten, wo es gar keine „Wir schaffen das“-Kanzlerin gab?
Angst vor Unsicherheit – und die ist marktliberales Leitmotiv
Die britischen Ökonomen Mark Blyth und Eric Lonergan bieten in ihrem gerade erschienenen Buch „Angrynomics“ eine beeindruckende Alternativerklärung. Danach liegen die tieferen Ursachen für die verbreitete Wut in einem Mix aus individuellen Ängsten und Ohnmacht, der sich aus realen wirtschaftlichen Phänomenen unserer Zeit ergibt, wie etwa technologischem Wandel oder dem Umbruch zu einer klimaneutralen Wirtschaft.
Zwar seien beide wichtig, um künftig besser leben zu können, so das schottisch-irische Autorenduo. „Die Brüche, die so ein Wandel mit sich bringt, sorgen bei den Menschen nur für latenten oder offenen Stress und Angst – und etwas, womit wir Menschen ganz schlecht nur umgehen können: Unsicherheit“. Und das, so Blyth und Lonergan, in einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem über 30 Jahre als (marktliberales) Leitmotiv galt, dass jeder selbst mit so etwas klarkommen müsse – und die Regierungen etliche Sicherungen abgebaut haben, die ihre Bürger vor solchen Brüchen geschützt haben.
„Wenn wir in solchen Umbrüchen dann real an Einkommen verlieren oder sehen, wie andere gewinnen, werden wir wütend“, so Blyth und Lonergan. Wobei solche Wut zweierlei Form annehmen könne: eine moralische Entrüstung, die im Grunde positiv wirke, weil sie reale Probleme zu beseitigen versuche; oder etwas, das die beiden Ökonomen als Stammesdenken (tribalism) beschreiben. Das entstehe aus dem im Grunde ganz menschlichen Reflex, sich einer Gruppe zugehörig fühlen und gegenüber anderen abgrenzen zu wollen. Was Wut kanalisiert, wie bei Fans eines Fußballklubs, so Lonergan – nur eben die eigentlichen Probleme nicht löst.
Das Drama sei, dass es in solchen Zeiten etliche Leute gebe, die Wut in solches Stammesdenken mit meist nationalistischem Grundton umzulenken versuchen. Das gilt für Donald Trump ebenso wie für die Brexiteers, für die Attila Hildmanns dieser Tage wie für etliche andere vom rechten Rand. Zu so etwas neige auch so mancher etablierte Politiker dann – eine „zynische Antwort auf den eigenen Kontrollverlust über die Wirtschaft.“
Wobei so ein Kontrollverlust auch durch andere Unwägbarkeiten entstehen kann, die so eine mehr oder weniger schlecht gesteuerte Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte mit sich bringt, ob große Finanzkrisen oder eben Pandemien. Wenn Globalisierungsschocks dazu führen, dass bei Ärmeren gespart wird, kann die erhöhte Unsicherheit schnell auch ausgenutzt werden, um die Wut gegen Minderheiten zu lenken, so Harvard-Topökonom Dani Rodrik.
Krise unter Kontrolle
Wenn die Diagnose stimmt, würde das zum einen erklären, warum auch in Deutschland in den vergangenen Jahren so viel Wutbürgertum entstanden ist und die AfD nach gängigen Studien gerade in jenen Regionen so viel dazugewinnen konnte, die von besagtem Wandel und der folgenden Unsicherheit der Menschen am stärksten getroffen wurden. Da war die Flüchtlingskrise womöglich nur ein weiteres Symbol für (zeitweisen) Kontrollverlust.
Es könnte außerdem erklären, warum die Bundesregierung mit dem, was sie in der Coronakrise jetzt gemacht hat, plötzlich die gegenteilige Wirkung erzielt zu haben scheint und zumindest viel positive Resonanz bekommt. Was sich darin ausdrückt, dass:
- die Zufriedenheit mit ihrer Arbeit seit Beginn der Pandemie von 32 auf einen Langjahresrekord von 66 Prozent hochgeschnellt ist, so Infratest dimap;
- die Leute mit Kanzlerin, Gesundheitsminister und Vizekanzler im Schnitt so zufrieden sind wie mit sonst keinem Politiker;
- mehr als 70 Prozent sagen, dass sie das, was die Regierung in der Coronakrise gemacht hat, für kompetent halten, wie eine gerade veröffentlichte Studie der gemeinnützigen Organisation „More in Common“ ergab – Politikertraumwert;
- fast 70 Prozent sogar kundtun, dass sie der Umgang mit der Krise in Deutschland „stolzer auf mein Land“ gemacht hat – was in Frankreich oder Großbritannien nur jeweils 39 Prozent der Leute finden;
- während die AfD seit Beginn der Krise in Wahlumfragen von 14 auf zuletzt teils deutlich unter 10 Prozent abgestürzt ist – was sicher nicht allein mit den internen personellen Querelen zu tun hat.
Es spricht eine Menge dafür, dass hinter all diesen Werten ein doch ziemlich verbreitetes Gefühl steckt, wonach die Regierung diese Krise gerade denkbar gut unter Kontrolle bekommen hat – zumindest gemessen an dem, was so eine Pandemie nun einmal hergibt. Und es die glimpflichen Zahlen zu Infektionen und Todesfällen zu bestätigen scheinen. Immerhin:
- sagen nur 11 Prozent der Deutschen einer Umfrage von Infratest dimap zufolge, dass die Corona-Einschränkungen zu weit gehen – anders als es die Unterdrückungsklagen auf den Demos vermuten lassen könnten; knapp 28 Prozent fänden – im Sprachmodus der Verschwörer – sogar noch mehr Corona-Diktatur gut;
- bewerten es 70 Prozent der Befragten in der More-in-Common-Studie als „demokratisch“, wie die Regierung bisher mit der Corona-Situation umgegangen ist;
- und ist der Anteil der Deutschen seit vergangenem Jahr von 63 auf 49 Prozent gesunken, die meinen, dass es im Land „eher ungerecht zugeht“.
Wenn das stimmt, könnte dies das Paradox dieser Tage auflösen. Dann kommt das, was die Regierung gemacht hat, womöglich gerade deshalb so gut an, weil sie, anders als in manchen anderen Krisen, den Eindruck gar nicht hat entstehen lassen, dass sie es irgendwie nicht im Griff hat. Ob durch einigermaßen vernünftig nachvollziehbare Kontaktbeschränkungen. Oder durch Überbrückungshilfen und Subventionen für Kurzarbeit und Konjunkturpakete. Und womöglich auch dadurch, dass das alles ganz gut erklärbar war – und eben nicht per Basta durchgedrückt worden ist.
Was nicht heißt, dass es dem einen oder anderen Rattenfänger nicht doch gelungen zu sein scheint, die Wut bei anderen noch in Stammeswut oder Verschwörungsglauben umzulenken, wie sich am Wochenende gezeigt hat – ganz im Sinne der zweiten Option, die es nach Diagnose von Mark Blyth und Eric Lonergan hier gibt. Nur eben insgesamt doch eher als Randphänomen.
Einfach-rabiate Politikansätze
Wenn die Menschen vor allem bei eigenem und politischem Kontrollverlust wütend werden, kann das eine Menge davon erklären, was die Welt derzeit so erlebt – warum Männer mit einfach-rabiaten Politikansätzen wie Wladimir Putin, Viktor Orbán, Jair Bolsonaro oder Donald Trump so erstaunlich viel Zustimmung bekommen.
Dann steckt nur nach der jüngsten deutschen Erfahrung offenbar auch Potenzial darin, Politik viel gezielter darauf auszurichten, den Menschen das Gefühl von Kontrolle zu vermitteln. Was für ein Virus via austarierter Einschränkungen gilt – wie für alles, was gegen die wirtschaftlichen Folgen solcher und anderer Schocks wirkt: von Geldhilfen der Notenbank über das Abfedern des Wandels zu einer klimaschonenden Wirtschaft oder Digitalisierung bis zum Abbau von allzu großem Gefälle bei Einkommen und Vermögen – oder besserem Schutz vor Firmenbetrug.
Sprich: Bei allem, wo im Volk in den vergangenen Jahren das Gefühl entstanden ist, dass die Regierenden die Kontrolle verloren haben.
Noch ist die Pandemie nicht vorüber – und nicht gesagt, ob nicht noch etwas außer Kontrolle gerät. Bis auf Weiteres nur gilt, dass die Deutschen in der Coronakrise so eine Art Blaupause dafür geliefert haben könnten, wie eine Politik aussehen könnte, die Unsicherheit und Wut im Volk abbaut. Ohne Machogehabe.
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