Steigende Corona-Schulden sind kein Grund zur Panik. Die Lehre aus der Deutschen Einheit: Es lohnt, Sonderschulden gelassener hinzunehmen – oder zu versenken.
Thomas Fricke: Coronakrise – Deutschland braucht ein Endlager – für Schulden
Die Lage scheint dramatisch, Leute. Gemessen an dem, was diese Woche so zu lesen und zu hören war, rund um die Vorstellung des neuen Bundeshaushalts vom Finanzminister. Der Mann nehme so viele Schulden auf wie nie. Rekord. Spitzenwert.
Und überhaupt sei das ein Haushalt, mit dem der Finanzminister bereits Wahlgeschenke an Wähler verteile. Was natürlich nicht geht, auch wenn einzuräumen ist, dass sozialdemokratische Kanzler mit späterer Öl- und Gaskarriere wiederum nicht so gute Erfahrung damit gemacht haben, Politik für Leute zu machen, die sie gar nicht wählen.
Egal, geht es nach dem einen oder anderen Haushälter, müsste spätestens kommendes Jahr mit dem Schuldenabbau angefangen werden. Zumal die wirtschaftliche Lage ja jetzt doch offenbar besser sei als befürchtet. Kann gar nicht schnell genug gehen. Wegen Untergangsrisiko.
Wirklich?
Wirtschaftsgott, bewahre! Gut möglich, dass wir ganz andere, sagen wir, innovativere Wege bräuchten, Schulden endlagern und verschwinden zu lassen. Spätestens nach diesem Winter. Wobei sich auch aus den bösen Erfahrungen nach der deutschen Einheit vor 30 Jahren lernen ließe.
Dazu lohnt vorab ein bisschen Einordnung. Es hat ein bisschen etwas gagaeskes, in diesen Wochen zu behaupten, die ganze Verschuldung sei doch ohnehin schon übertrieben gewesen – weil die Konjunktur schon wieder gut laufe. Das tut sie ja deshalb, weil so viel Geld geflossen ist, mit dem Firmen ihre Leute erst einmal halten konnten – und (mit Abstrichen) über eine sinkende Mehrwertsteuer auch (noch) schneller der Konsum wieder anzog. Deshalb gehen die Prognostiker jetzt fürs Gesamtjahr 2020 von einem nicht mehr ganz so dramatischen Rückgang der Wirtschaftsleistung von 5 bis 6 Prozent aus. Was wiederum zu entsprechend weniger Ausfällen von Steuereinnahmen für den Finanzminister führt – also doch nicht mehr ganz so viele Schulden. Klassische Konjunkturpolitik: In der Krise mehr Schulden machen, um danach entsprechend weniger Schulden zu haben. (Okay, nichts für Haushälter mit Tagesblick.)
Was zur Einordnung ebenfalls nützlich ist: Nach jetzigem Stand dürfte damit zwar das Staatsdefizit insgesamt in Deutschland noch bei fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen, wie etwa die Forscher des IMK Instituts diese Woche prognostizierten. Nur ist das erstens gemessen an einer so dramatischen Krise und im internationalen Vergleich nicht wirklich eine Katastrophe – zumal Anleger immer noch dafür bezahlen, deutsche Anleihen kaufen zu dürfen. Die Amerikaner steuern gerade unter ihrem Vollprofi-Präsidenten auf ein Staatsdefizit von 16 Prozent zu – da sollte mal jemand Wahlkampfbudget sagen. Die Briten dürften bei lustigen 14 Prozent liegen.
Unsere vorlauten Freunde aus der Tugendzone, also Österreich und Niederlande, dürften ein schnuckeliges Staatsdefizit von 7 Prozent bekommen. Großes Kino.
Selbst das ist in Wirklichkeit schon deshalb nicht gleich ein Drama, weil – noch etwas, das bei der Einordnung hilft – ein Großteil des Defizits wieder schrumpft, sobald die akute Krise vorüber ist, also viele staatliche Schnellhilfen etwa zur Überbrückung von Umsatzausfällen naturgemäß auch wieder wegfallen. Nach Prognose der Ökonomen vom Kieler Institut für Weltwirtschaft wird Deutschlands Staatsdefizit nach allem, was derzeit absehbar ist, 2021 bereits auf 3 Prozent sinken; die IMK-Kollegen rechnen sogar mit nur noch 2,6 Prozent – bei einem Gesamtschuldenstand, der zwar gegenüber vergangenem Jahr um 300 Milliarden Euro gestiegen ist, damit aber immer noch unter 70 Prozent des BIP bleiben dürfte. Die Quote war nach der Finanzkrise schon einmal deutlich höher. Und das, obwohl nächstes Jahr ja noch der Soli teilabgeschafft wird – und es auch sonst einiges an Entlastung für die Bürger im Land gibt.
Kurz: für Panik kein Grund. Deutschland wird deshalb weder in Kürze Pleite anmelden müssen (und auch auf lange Zeit nicht), noch kommt die Inflation oder ähnliches um die Ecke. Keep calm.
Corona-Schulden einfach durch Wachstum tilgen?
Die eigentliche Frage ist, ob und wie (wenn überhaupt) die Schuldenquoten wieder auf Vor-Corona-Zeiten zurückzuführen sind. Zumal sich bald als gewagt erweisen könnte, einfach darauf zu setzen, dass Deutschland noch einmal durch stetig höhere Wirtschaftsleistung, mehr Jobs und entsprechend entlastete Staatskassen aus den roten Schulden in die schwarze Null wachsen kann, wie das nach der Finanzkrise in den Jahren des Glücksfinanzwarts Wolfgang Schäuble passiert ist.
Damals half, dass die Firmen immer mehr Leute einstellten – und die Beschäftigungsquote auf international und historisch hohe 80 Prozent stieg. Da gibt es noch Potenzial, nur wie viel noch, zumal in einer mehr oder weniger absehbar alternden Gesellschaft? Damals trugt zur Besserung auch die Manie des Finanzministers zur Einhaltung einer ökonomisch eher abwegigen schwarzen Null bei – was als Kehrseite das Ausbleiben etlicher Investitionen in Straßen, Schulen, Schienen, Digitalnetze und überhaupt viel schnellere Fortschritte im Kampf gegen den Klimawandel hatte und sich seit Jahren nun rächt.
Nichts, was als Vorbild zur Wiederholung taugt.
Gegen erneuten Wachstumszauber beim Abbau der Staatsdefizite spricht, dass:
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trotz aller Erholung in wichtigen Industrien eine Mehrheit der Betriebe noch über eher schlechte Geschäfte berichtet; in der Autoindustrie lag der Anteil der Enttäuschten um knapp 20 Prozentpunkte niedriger als die Quote der Zufriedenen, wie das Ifo-Institut ermittelt hat;
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in vielen Konzernen seit Langem erstmals wieder über massiven Arbeitsplatzabbau entschieden wird, um die Aktionäre zu beglücken – wie jetzt, höchst umstritten, bei Continental in Aachen;
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selbst bei weniger starken Kontaktbeschränkungen diesen Winter wegen der steigenden Infektionen und Ansteckungsrisiken einiges an Wirtschaftsleistung wieder verloren gehen dürfte – dann wird bei weniger Wachstum noch mehr auszugleichen sein;
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der Corona-Schock schon jetzt in der Industrie zu beschleunigten Brüchen zu führen droht. Deutschland erlebe gerade die Umkehr einer Menge Trends, die bisher den Erfolg des Exportmodells ausgemacht haben, sagt die Pariser Ökonomin Véronique Riches-Flores: von der Deglobalisierung über das Ende Chinas als wachsendem Importeur bis hin zum verlangsamten Bevölkerungswachstum, was die Globalisierung lange angetrieben habe.
Natürlich wird die Wirtschaft deshalb nicht aufhören zu expandieren – und dem Finanzminister so den einen oder anderen Euro an Steuereinnahmen bescheren. Nur eben womöglich lange nicht ausreichend, um mal eben in ein, zwei Jahren schon wieder mehr oder weniger ausgeglichene Haushalte zu haben.
Nach Schätzungen der Kieler Forscher läge selbst bei einer Rückkehr zur Normalkonjunktur das (strukturelle) Defizit im deutschen Etat bei etwa 60 Milliarden Euro. Auch nichts, was durch ein, zwei Jahre Aufschwung automatisch kommt (selbst bei einem ordentlicheren Aufschwung).
Wenn das stimmt, gibt es logisch ja nur drei Möglichkeiten, mit dem Corona-Schuldenerbe umzugehen: entweder Steuern anheben; oder Ausgaben kürzen; oder Nichtstun (oder ein bisschen von allem). Womit wir beim tieferen Problem sind. Schon, weil es in der Natur jeder Steuererhöhung und Ausgabenkürzung liegt, dass das Geld dann irgendwelchen Leuten fehlt, um es ausgeben zu können. Was auch wieder blöd ist für den Finanzminister. Solcherlei Austerität ist nach heute gängiger Erkenntnis für ein so großes Land ein ziemlich aussichtsloses (oder teures) Unterfangen. Siehe oben.
Was das Kürzen von Ausgaben angeht, gibt es da auch keine goldene Lösung. Wie die beiden Ökonomen Michael Hüther und Jens Südekum in einer neuen Studie darlegen, gehört es zu den fatalen Trends der vergangenen Jahre, dass öffentliche Finanzwarte und Kämmerer in kritischen Situationen als Erstes dort kürzen, wo es am einfachsten ist: bei jenen Investitionen, die auf Dauer aber am wichtigsten wären. Ein komplett irrer Gedanke in einer Zeit, in der Deutschland zur Vermeidung der nächsten großen Krise dringend viel mehr und nicht weniger Geld investieren müsste – in eine schnellere Wende hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft; oder in besser bezahlte Gesundheit; oder in den Ausbau digitaler Netze, bessere Schulen und so weiter.
Die Lösung der Dino-Ökonomen
Bliebe als Standard altorthodoxer Ökonomie: das Kürzen von Sozialausgaben – was Dino-Ökonomen wie die der traurigen Deutschen Bank auch schon wieder als „wachstumsfreundlich“ zu propagieren versuchen. In heutiger Zeit nicht weniger irre, wo mittlerweile eine Menge auch auf sozialpsychologisch fatale Nebenwirkungen dieser Variante hindeutet. Wie soll der Finanzminister das denn begründen? Mit dem Verursacherprinzip? Ein Staat kann ja womöglich noch ganz gut argumentieren, dass bei Leuten gekürzt wird oder Steuern angehoben werden müssen, die womöglich eine Zeit lang zu wenig gezahlt haben – oder es sonstwie verdient haben. Nur: Wie lässt sich Kürzung, sagen wir: bei Rentnern oder Hartz-IV-Empfängern legitimieren, wenn die Ursache für den erhöhten Finanzbedarf bei einem Virus liegt? Das führt früher oder später zu kognitiver Dissonanz. Moralisch und anreiztheoretisch müsste man ja den Corona-Erreger mit einer ordentlichen Steuer belegen – oder ihm die Stütze kürzen. Bringt nur praktisch nichts.
Was passiert, wenn Leuten Geld gekürzt wird, die vorher gar nicht geprasst haben – und das damit erklärt wird, dass irgendwelche größeren (Globalisierungs-)Kräfte das erfordern -, haben die Deutschen nach der Agenda 2010 erlebt, vor allem die Sozis. Spätestens als in der Finanzkrise doch Geld da war, um Banken zu retten. Oder 2015, als es galt, eine Menge Flüchtende aufzunehmen (auch wenn das gegen die Finanzkrise nichts war).
In Großbritannien wurde Studien zufolge 2016 überproportional dort für den Brexit gestimmt, wo nach 2010 am meisten Austerität praktiziert worden war. Auch die Nazis kamen nach dem Finanzcrash von 1929 besonders dort gut an, wo in der Folge am meisten gekürzt und gespart worden war.
…oder ins Endlager mit den Schulden
Bleibt Option drei: abwarten. Hilft ja nichts. Und spätestens bei der nächsten Welle auch ernsthafter darüber nachdenken, solche Schulden in ewige Anleihen zu verwandeln oder gleich in den Bilanzen der Notenbank als Corona-Sonderlast endlagern zu lassen – was auch den Sachverhalt spiegeln würde, dass da Geld extra zur Bekämpfung einer Krise nötig war, für die kein Mensch ernsthaft zu Rechenschaft und Rechnung gebeten werden kann. Es gibt ja jetzt schon genug Leute, die mangels sicherer Alternativen noch Geld dafür bezahlen, dass sie 30-jährige Anleihen vom Staat bekommen. Es ergibt weder moralisch noch ökonomisch oder politisch Sinn, als Konsequenz so einer Krise ansonsten (mehr oder weniger) sinnvolle Ausgaben heillos zu kürzen und Steuern anzuheben – und die Wirtschaft so nur noch mehr zu belasten.
Nach der Einheit hat Deutschland über etliche Jahre einen hohen wirtschaftlichen Preis für das historische Event bezahlt – weil über Jahre Steuern und Abgaben erhöht wurden und Ausgaben gekürzt. Keine gute Erfahrung. Das hat im Osten nicht dazu geführt, dass eine solide neue Wirtschaft entstand – im Gegenteil, da steht bei vielem heute noch eine Mauer. Und im Westen gab es über Jahre großes Gezeter darum, dass überall zu kürzen ist – angeblich wegen der Globalisierung, in Wahrheit zu einem Gutteil aber, weil Deutschland trotz Einheitslasten tolle Etats aufweisen wollte. Mit ebenso fatalen soziopsychologischen Nebenwirkungen, weil die meisten ja vorher nicht geprasst hatten.
Das sollten wir diesmal besser hinkriegen.
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