Roland Koch kommt zurück – und womöglich bald auch Friedrich Merz. Wenn die Union ihren neuen Chef bestimmt, geht es auch um die Wahl zwischen Neunzigerjahre-Wirtschaftsnostalgie und moderner Kapitalismuskritik.
Thomas Fricke: CDU-Vorsitz – Konservative im Kulturkampf
Es gibt sicherlich gravierendere Entscheidungen als die, wer nun die ehrenwerte Ludwig-Erhard-Stiftung führt. Von daher wird die Welt jetzt auch nicht plötzlich die Gravitationslinien verlassen, wenn bald Roland Koch, der frühere hessische Ministerpräsident, für diesen Job zusagt, der ihm jetzt angeboten wurde. Trotzdem hat die Wahl potenziell größeren Symbolwert – auch für die deutlich bedeutendere nachfolgende Wahl, die in der konservativen Chatgruppe ansteht: wer künftig die CDU führt.
Dabei geht es bei näherer Betrachtung nicht nur darum, welcher Mann jeweils gewinnt. Sondern auch um einen latenten Kulturkampf darum, was eigentlich Mission und Wirtschaftsleitmotiv der Partei Ludwig Erhards für die nächsten Jahre sein sollte. Zurück zu mehr Marktwirtschaft, weniger Staat und dem Primat der Wirtschaft, wie es in den Neunziger- und frühen Nullerjahren gepredigt wurde – von Leuten wie, ach, wie hießen die noch, ich hab’s, Friedrich Merz und Roland Koch? Oder hin zu ganz neuen konservativen Antworten in einer Zeit, in der Globalisierung, Klima und Kapitalismus irgendwie alle zu schwächeln scheinen?
Blackrock-Sprech mit Roaring-Nineties-Touch
Klar, wird das derzeit noch durch die Frage überlagert, wer gerade hier oder da die bessere Antwort auf die Corona-Pandemie hat – was ja auch ziemlich wichtig ist. Nur geht es nun mal auch um die Zeit danach. Und: Wie sehr es in der Union da gerade zwei Weltsichten gibt, lässt ein Vergleich erahnen zwischen dem, was vor just einer Woche Wolfgang Schäuble in ungeahnter Kapitalismuskritik sprach – und der unbekümmerten Art, wie Friedrich Merz zwei Tage darauf in einer namhaften Talkshow dozierte, was uns »der Kapitalmarkt« sagt. Blackrock-Sprech mit Roaring-Nineties-Touch.
Bei Merz beschleicht einen immer ein wenig der Verdacht, er würde doch am liebsten wieder genauso reden wie zu Hochzeiten der Agenda 2010 – darüber, dass die Deutschen verzichten müssen (klar, nur die, die nichts Richtiges leisten), der Staat blöd ist und alles den Bach runtergeht, wenn nicht ganz viel am Sozialstaat reformiert wird (eine Prophezeiung, die schon damals, als er das 2004 in ein Buch geschrieben hatte, nicht eintrat, dafür kurz darauf die längste Phase sinkender Arbeitslosigkeit seit ewigen Zeiten). Tja.
Nur dass er sich dabei jetzt immer auf die Zunge zu beißen versucht, weil ihm irgendwer gesagt hat, dass das heute nicht mehr so gut ankommt. Mit begrenztem Erfolg. So wie vergangenen Sonntag, als er dann doch wieder so Sätze sagte wie, dass »Private investieren müssen, nicht der Staat« – als hätten nicht gerade solche absurd kategorischen Mantras dazu geführt, dass über Jahre öffentlich viel zu wenig in Schulen, Bahnnetze, Klimaschutz und digitale Netze investiert wurde. Und es natürlich private und staatliche Investitionen braucht, nicht entweder oder.
Oder wenn er doziert, dass wir uns nach der Pandemie auf eine lange Zeit der Sparsamkeit einstellen müssen. Sie dürfen raten, wer da am Ende weniger Geld hat.
Oder dass die arme deutsche Wirtschaft mal wieder unter den »höchsten Steuern, Bürokratie und Stromkosten« leide. Als hätte die Wirtschaft mit eben diesen Lasten die vergangenen Jahre nicht doch erstaunlich gut überstanden, so viele Gewinne gemacht wie nie. Fehldiagnose.
Es klingt wie aus einer anderen Wahrnehmungszone, wenn Alt-Finanzminister Schäuble – bekanntlich führendes Mitglied ein und derselben Partei –, aufs Hier und Jetzt angesprochen, eher von den »Schattenseiten der Globalisierung« spricht, die uns durch die Pandemie bewusst geworden sind. Oder davon, dass »wir den Schock der Pandemie nutzen (müssen), damit das unglaubliche Schwungrad des Kapitalismus und der Finanzmärkte nicht weiter überdreht«. Und dass sich Freiheiten selbst zerstören, wenn »wir es mit den Freiheiten übertreiben«. Oder dass »der Kapitalismus, wie wir ihn derzeit betreiben, auf Kosten der ohnehin Schwachen geht«. Und dass wir unter dem Stichwort »freier Welthandel« Arbeitskräfte in Ländern wie Bangladesch, Achtung, »ausbeuten«.
Kurzer Zwischenhinweis: Hier spricht Bundestagspräsident Schäuble, nicht Kevin Kühnert oder der olle Karl Marx. Das passt zu allem, nur nicht zur Weltsicht von Friedrich Merz.
Selbst das Dogma von der immer schwarzen Null klingt plötzlich nicht mehr so dogmatisch. Das sei halt mehr »ein Symbol« gewesen, das man aus »kommunikativen« Gründen behalten habe.
Ein Schäuble-Ausrutscher? Offenbar nicht. Auch jüngere Leute aus der Partei wie Jens Spahn kontern die alte Merz-Tour und legen heute dar, dass wir »ein neues Staatsverständnis« brauchen. Und dass der Staat wieder aktiver werden müsse, um etwa die Unterbezahlung in der Pflege zu beheben oder eine aktivere Industriepolitik zur Stärkung strategisch wichtiger Konzerne zu machen.
Dass es für solch radikal wirkende Gedankenspiele gute Gründe gibt, lässt ein Blick darauf erahnen, was derzeit international von Ökonomen so diskutiert wird. Da geht es längst schon viel mehr darum, wieder eine besser kontrollierbare Globalisierung oder ein geringeres Gefälle zwischen Reich und Arm zu schaffen. Und nicht mehr wie zur Hochzeit nachwirkender Reagonomics und Thatcheristen darum, was man nicht noch alles privatisieren könnte (was sich ja in vielen Fällen längst als Desaster herausgestellt hat). Das heißt nicht, um das gleich vorwegzunehmen, dass deshalb gleich der Kommunismus einzieht – was sicher auch Herr Schäuble nicht möchte.
Solche Schwarz-Weiß-Reflexe passen ohnehin nicht. Zu vermuten, dass es bei Erhard wie im Bilderbuch marktwirtschaftlich zuging, wie es eifrige Verteidiger des Grals gern ausrufen, ist ja auch ein grotesk romantisiertes Bild der wirklichen Zustände in der Nachkriegszeit – da gab es keine überdrehten Finanzmärkte, waren Banken noch mit Kreditvergabe für reale Investitionen beschäftigt, statt mit Derivaten. Der Kapitalverkehr war stark kontrolliert, die Devisenkurse festgelegt, und es gab mehr Lohn für alle, nur in unterschiedlichem Tempo.
Wohlstand für alle oder Soli-Abschaffung für die oberen zehn Prozent?
Übervater Erhard ging es ja auch um Wohlstand für alle. Nicht darum, was der Kapitalmarkt sagt. Oder die Abschaffung des Soli für die oberen Einkommensempfänger. Als Erhard Wirtschaftsminister war, wurde im Zuge des sogenannten Lastenausgleichs nach dem Krieg eine ziemlich stattliche Vermögensabgabe erhoben; und es gab wie selbstverständlich eine Vermögensteuer. Was würde die Regierung von damals wohl machen, um die Lasten der Pandemie zu schultern?
Auf all das mögen auch Wolfgang Schäuble und Jens Spahn noch keine ausgereiften Antworten haben. Wie auch, wenn die Suche großer Denker nach neuen Modellen gegen Globalisierungs-, Demokratie- und Klimakrisen gerade global läuft. Es hört sich nur sehr viel relevanter an, sich mit solchen Grundsatzfragen zu beschäftigen, als mal wieder Neunzigerjahre-Ökonomie zu dozieren.
Es gibt ja selbst im – diesbezüglich – noch arg hinterherhinkenden Deutschland auch konservative Leute, die dafür stehen, Marktwirtschaft nicht zum leeren Dogma zu machen. Ohne deswegen gleich den Staat als Wundermittel zu preisen, was ja ebenso dumm wäre. Ob Michael Hüther, der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, der seit einiger Zeit für mehr staatliche Investitionen und mehr Flexibilität bei den Schuldenregeln plädiert. Oder der renommierte Finanzexperte Martin Hellwig, wenn er höhere Anforderungen an Banken anmahnt.
Wenn das alles stimmt, ließe sich daran zweifeln, ob die gute Ludwig-Erhard-Stiftung jetzt mit Roland Koch den Richtigen gewählt hat, um danach zu suchen, wie denn eine moderne konservative Antwort aussehen könnte. Zumindest ist der Mann bisher nicht sonderlich durch konstruktive (oder andere) Kritik am Kapitalismus aufgefallen.
Mit der Nominierung hat die Stiftung ein paar bittere Jahre abgeschlossen, in denen sie vom schräg rechts polternden Roland Tichy geführt wurde. Zum Glück. Jetzt wäre die Möglichkeit, den Wechsel durch die Neubeantwortung der Frage zu begleiten, welche Deutung des gepriesenen Meisters in die heutige Zeit wirklich passt. Eine Rückkehr zum Globalisierungskapitalismus à la Merz – den es unter Erhard aber nie gegeben hat? Oder etwas, was sehr viel mehr Grenzen setzt, wie es Schäuble und Spahn vorschwebt – so wie das ja unter Ludwig Erhard auch der Fall war?
Eine Wahl für die Stiftung. Und in etwa acht Wochen für die Union. Sprich: für Deutschland.
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