Sind die Fehler der Corona-Politik ein Beleg dafür, dass der Staat versagt? Oder dass er dringend besser ausgestattet werden müsste? Ein Annäherungsversuch.
Thomas Fricke: Impfdrama und Lockdown – Staat oder Markt: Wer versagt hier mehr?
Wer auf eher schlichte Weltbilder steht, sollte gelegentlich in eine große deutsche Wirtschaftszeitung sehen. Da kommt es noch vor, dass kommentiert wird wie zu Zeiten, als das orthodox-wirtschaftsliberale Motto galt: Wirtschaft gut, Staat böse. Da ergreift der Unternehmer »Chancen«. Wogegen der Beamte an sich »risikoscheu« ist. Da geht Dynamik – Trommelwirbel – von Unternehmen aus, nicht von »Amtsstuben«.
Was, so die Warnung, in der Pandemie fatal zu werden drohe, wo doch der Staat so viel mache. Denn natürlich haben, so einfach ist das, allein »marktwirtschaftliche Innovations- und Wettbewerbsprozesse« dazu geführt, dass es so schnell Impfstoffe gebe. Und nicht »Zwangsbewirtschaftung«. Da beweist umgekehrt jenes Impfdrama, das EU-Beamte (wer sonst?) verursacht haben, dass »der Staat es eben nicht besser kann«. Wie auch, wo in besagten Amtsstuben »um fünf der Bleistift fallen gelassen wird«, während Unternehmer sich »Tag und Nacht um ihre Firma kümmern«. Hinreißend. Da fließen Wirtschaftshilfen (die besagte Unternehmen offenbar trotzdem vom Amt brauchen) zu langsam, weil der »Amtsschimmel laut wiehert«. Und da übt »die Politik« angeblich gerade den »Marsch in die Staatswirtschaft«.
Kein Scherz, das steht da wirklich. Das passt in kein Floskelschwein. In Sachen Tiefgang ein bisschen so, als hätte der Industrieverband BDI die »Sendung mit der Maus« gekapert – oder: die Teletubbies. In etwas moderaterer Form geistert eine solche Denkweise noch ordentlich durchs Land.
Die Impfstoff-Herstellung
Dabei stellt sich die Frage in diesen Tagen ja sehr ernst, woran es liegt, wenn Impfstoffe zu spät kommen oder zu wenig Leute geimpft werden – und ob das mal wieder zeigt, dass Beamte blöd und faul sind. Gut möglich, dass die Antwort dann allerdings auch eher für ein moderneres Verständnis von Staat und Unternehmertum spricht als für Teletubbie-Ökonomie.
Natürlich ist die Suche nach den Impfstoffen in diesen Wochen ein großartiges Beispiel dafür, was Wettbewerb zwischen Forschern in Privatbesitz bewirken kann. So schnell sind Impfstoffe noch nie entwickelt worden, sagen die Fachleute. Das als Beleg dafür zu deuten, dass der Markt (fast) immer besser ist, erweist sich bei näherem Hinsehen nur als etwas steile These.
Immerhin haben etwa die (ohne Zweifel großartigen) Biontech-Forscher vom Staat im Herbst 375 Millionen Euro bekommen. Da würde ich mich auch noch ein bisschen mehr anstrengen. Zumal, wenn mir vom Staat auch noch eine garantierte Abnahme sowie Preise zugesichert und die Haftung abgenommen würde. Was die Forscher in Interviews ebenfalls sagen, ist, wie wichtig es für sie war, dass sie an der Uni »verankert« blieben – also einer öffentlichen Einrichtung.
Wie der Ökonom Arash Molavi Vasséi schreibt, dürften die Impfstoffe gerade deshalb so schnell entwickelt worden sein, weil eben nicht Staat gegen Markt gespielt wurde: »Staaten haben sich des Marktprozesses als Entdeckungsverfahren bedient, während Märkte ohne den Staatsimpuls unzureichend aktiv gewesen wären.«
Das EU-Drama
Auch das aktuelle Drama, dass in der EU viel zu wenig Impfstoffe bestellt wurden, taugt nur bedingt für simple Amtsschimmel-Häme. Erstens spricht ja nicht viel dafür, dass Beamte in den USA und Großbritannien, wo alles schneller geht, geborene Dynamiker sind. Zweitens ist offenbar so wenig bestellt worden, weil die EU-Verantwortlichen eben jenen Wettbewerb um die günstigsten Preise wirken lassen wollten – also den Markt; was in diesem Fall absurd war, nur halt dem entsprach, was den EU-Beamten seit Langem gepredigt wurde: dass es eine Tugend ist, wenig auszugeben. Dabei war spätestens in der Pandemie genau das Gegenteil angesagt.
Es wäre absurd anzunehmen, dass es die glorreiche Privatwirtschaft irgendwie besser gemacht hätte. Im Gegenteil. Für Unternehmen am Markt gibt es an sich gar nicht genug Anreize, die Produktionskapazitäten für Impfstoffe dramatisch auszuweiten, wenn absehbar ist, dass der Bedarf nur sehr kurzfristig so enorm ist – und es auf lange Sicht dafür so viel Bedarf nicht gibt. Da muss dann doch eine staatliche Instanz dafür sorgen.
Viel weniger Beschäftigte im öffentlichen Dienst
All das lässt erahnen, wie grotesk die simple Gut-Böse-Formel ist. Es geht in Wahrheit heute längst eher darum herauszufinden, welche Rolle wann genau Staat und Markt jeweils spielen – und wie das am besten zusammenwirkt. Und dabei die Schäden eher wieder wettzumachen, die ein paar Jahrzehnte Beamten-Bashing und Amts-Kürzen hinterlassen haben.
Heute leben in Deutschland rund 1,75 Millionen Menschen mehr als im Jahr 2000 – es gibt aber 24.000 weniger Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die sie betreuen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung geben wir – mit nur noch 7,9 Prozent – weniger für unsere Staatsbeschäftigten aus als Briten und Amerikaner. Das merkt man, wenn man dann mal einen Pass erneuern muss; oder in Schulen Computer fehlen und Personal in Kitas; oder Gesundheitsämter auf Papier arbeiten. Oder wenn es heißt, dass es in Sachen Investitionen nicht am Geld fehlt, sondern an hinreichend schneller Genehmigung. Wenn das Personal dort weggekürzt wurde, ist halt keiner mehr da, der Aufträge schnell genehmigen kann.
Wie die amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato dargelegt hat, trägt das Mantra vom Staat, der es nicht kann, sich selbst erfüllende Züge. Wenn sich privat so viel mehr verdienen lässt und das Image des faulen Amtsschimmels so tief sitzt, ist es halt auch nicht mehr attraktiv, fürs Gemeinwohl zu arbeiten. Und dann fehlen dem Staat eben zunehmend schlaue Köpfe. Regierende sollten daher eher zusehen, für strategisch wichtige Institutionen Top-Forscher mit internationalem Standing anzulocken, so Mazzucato. Das geht natürlich nicht mit dem Sparpfennig.
Das gilt für Pandemiefragen, aber auch darüber hinaus. Es gibt endlos Dinge, die private Unternehmer besser können. Dass Staat und Markt besser zusammenwirken, ist immer dann naheliegend, wenn noch so tolle Unternehmer mit dem Job überfordert sind, das Beste herauszufinden. Was immer dann der Fall ist, wenn es um Dinge geht, die gesellschaftlich ziemlich komplex sind – wie so eine Pandemie, wo das Einzelinteresse nicht mehr mit dem Gemeinwohl übereinstimmt. Oder wenn es um Dinge geht, die weit in die Zukunft wirken.
In der Biotechnologie zahlten sich Investitionen aller Erfahrung nach erst nach 10 bis 15 Jahren aus, erklärten die Biontech-Chefs im SPIEGEL-Gespräch. In solchen Fällen ist es schwerer, private Geldgeber zu finden. In den USA gebe es daher auch die Darpa-Behörde, die »mal schnell hundert Millionen Dollar Anschubfinanzierung bereit« stelle, so Uğur Şahin: »das könnten wir in Europa gut gebrauchen«. Sagt der Mann, den Unternehmertum-Romantiker gern als Zeuge des glorreichen Marktradikalismus feiern.
Ähnliches gilt, wenn es darum geht, das Klima zu retten. Wenn es ein neues System für Automobilantrieb und Mobilität zu entwickeln gilt, scheinen einzelne Firmen überfordert. Da kann der Wettbewerb noch so schön wirken. Da haben, wie geschehen, die Konzerne viele Jahre damit verbracht, irgendetwas zu entwickeln – und sich dabei im Kreis gedreht. Das hat erst aufgehört, als Regierungen sich dazu durchgerungen haben, der Elektromobilität Priorität zu geben – und den Start mitzufinanzieren, ob über Kaufanreize oder Ausbau des Ladenetzes.
Es hat kaum ein paar Wochen gedauert, seit für die USA Joe Biden ein ähnliches Signal gegeben hat, da tun die großen US-Autokonzerne nacheinander kund, auf Elektromobilität zu setzen.
Es spricht viel dafür, dass Forscher und Entwickler in den Unternehmen am besten geeignet sind, die neuen Autos zu machen und abzusetzen – es spricht nur ebenso viel dafür, dass es für so etwas Großes zum Start staatliche Hilfe braucht. Ebenso wie bei den Impfstoffen. Oder bei der Sanierung von Gebäuden. Oder bei der Gesundheitsvorsorge. Oder der öffentlichen Infrastruktur.
Je besser zusammengearbeitet wird, desto kleiner ist der Reparaturbedarf
Wenn das stimmt, ist es gaga zu sagen, dass per se nur private Unternehmen dynamisch sind – und der Staat immer nur lahm. Dann gilt es, künftig noch besser zu verstehen und abzugrenzen, wann private Initiative reicht und optimal wirkt – und wann es öffentliche Hilfe braucht. Und wie sich beides voneinander abgrenzen lässt. Und dann gilt es herauszufinden, wie sich aus Behörden moderne Einrichtungen machen lassen, die nicht nur verwalten, sondern für Bewegung in der Wirtschaft sorgen.
Wenn Unternehmer an bestimmten Aufgaben scheitern, hilft auch die Floskel wenig, dass so ein Beamter auch nicht weiß, was richtig ist. Dann müssen öffentliche Einrichtungen eben so ausgestattet und organisiert sein, dass sie herausfinden, was nach bestem Wissen und Gewissen für die Gesellschaft am besten ist. Und wann es gilt, so viele Impfstoffe wie möglich zu kaufen – oder mit viel Geld entwickeln zu lassen. Das soll nicht heißen, dass sie unfehlbar sind. Nur sind das eben Unternehmer abseits jeder Romantik in diesen Fällen noch weniger.
All das heißt auch nicht, dass gleich sozialistische Verhältnisse drohen. Je besser Staat und Wirtschaft zusammen funktionieren und dies dazu beiträgt, Wert zu schöpfen und Krisen zu verhindern, desto geringer wird am Ende auch der Reparaturbedarf und der Anteil staatlicher Ausgaben an der (größer gewordenen) Wirtschaftsleistung. Wenn nicht genug für die Impfstoffverteilung gesorgt wird, droht dies ja jetzt umso größeren Schaden anzurichten – wenn deshalb doch noch die dritte Welle einsetzt. Und ein bisschen von dem Geld, das die Gemeinschaft in die Entwickler von Impfstoffen investiert hat, könnte dann ja auch an die Gemeinschaft zurückgehen – wenn damit so enorme Gewinne gemacht werden. Nur fair.
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