Lahme Impfungen, überforderte Bürokratie, mangelnde Digitalisierung – Deutschland kasteit sich gerade wieder einmal selbst. Das droht vom Kern abzulenken: Der Staat muss mit viel Geld aufgepeppt werden.
Thomas Fricke: Nationale Depression – Wenn die Deutschen sich selbst schlechtreden
Es ist zum Verzweifeln, ohne Zweifel. Die Pandemie wächst sich gerade zur dritten Welle aus, was seit Wochen absehbar war. Trotzdem warten Schulen vergeblich auf Tests, kommen Impfdosen nicht schnell genug, und die Ämter brauchen endlos, um dies oder das zu beschleunigen. Tragisch.
Als mindestens so tragisch könnte sich allerdings auch erweisen, wie sachte Kritik an alledem in diesen Tagen in so eine deutsche Lust am eigenen Unvermögen umzuschlagen droht – eine diffuse Selbstkasteiung und Pauschalkritik an dem, was die Deutschen so sind und machen. Dass sich jetzt zeige, wie schlecht unsere (angeblich zuvor immer vorbildliche) Verwaltung dastehe, ach, wie satt und unbeweglich und rückschrittlich wir sind. Als Land »eingeschlafen«, wie Volksphilosoph Uli Wickert befindet. Kürzlich noch Lehrmeister von Griechen und Italienern, jetzt Sanierungsfall. Was wir beides im Wechsel mit viel Romantik zu zelebrieren fähig sind wie wahrscheinlich kein anderes Volk.
Dabei birgt so viel Untergangsfreude gerade jetzt eher Ungemach. Weil sie die konstruktive Suche nach Besserung in ein diffuses Lamento abgleiten lässt – und im Zweifel zu noch mehr tumbem Verdruss und ebenso diffusem Politaktivismus führt. Dabei sind die Probleme eingrenzbar. Und drehen sich vor allem darum, für einen moderneren Staat zu sorgen. Kein Grund, deshalb gleich einen gefährlichen Totalabgesang anzustimmen.
Derlei Selbstkasteiung klingt schon deshalb ein bisschen grotesk, weil es gerade ein paar Wochen her ist, dass noch als Beleg für deutsche Innovationskraft gefeiert wurde, wie hiesige Forscher den weltweit ersten Impfstoff entwickelt haben. Und wir vor ein paar Monaten noch international als Beispiel für gutes Eindämmen der Pandemie galten. Während Italiener, Franzosen, Belgier, Briten, Amerikaner und Spanier völlig überfordert schienen. Bei uns sind bis dato weniger Menschen gestorben. Und die Krankenhäuser scheinen trotz aller Kürzungen besser ausgestattet als die in Italien oder Spanien. An alledem hat sich ja nichts geändert.
Der deutsche Erfolg ließ die Bereitschaft erschlaffen
Was dann? Wenn Politiker wie Bürger mit der zweiten und dritten Welle plötzlich so überfordert scheinen, liegt das – nicht allein, aber auch – an einer tückisch menschlichen Eigenlogik so einer Pandemie: Deutschland ist ja nicht das erste und einzige Land, wo es zuerst gut lief – und das dann von umso heftigeren Folgewellen erfasst wurde. Nicht weil die Politiker urplötzlich verblödet sind (die sind nicht blöder als vorher) oder abrupt Verfall einsetzt – sondern weil Menschen dazu neigen, ihr Verhalten nach dem zu richten, was sie unmittelbar erleben. Da wirken in einer Pandemie Ersterfolge eben tückisch: Dann ist die Bereitschaft schwerer aufrechtzuerhalten, sich an Kontaktbeschränkungen zu halten und Politiker zu radikalen Maßnahmen zu bewegen – oder auf schlimmere Zeiten einzustellen. Das macht es dem Virus in zweiter Runde fatal einfacher.
Das könnte umgekehrt erklären, warum gerade Großbritannien, Israel und die USA seit Wochen so heftig impfen und wie dynamische Vorbilder wirken: In allen drei Ländern lief Ende des Jahres eine unfassbar dramatischere Welle als in Deutschland. Da wäre auch bei uns womöglich nicht mehr so lang gewartet worden, ob nun der Impfstoff hinreichend sicher ist. Und da wären Politiker auch bei uns über den einen oder anderen Behördeneinwand gleich hinweggegangen. Und die Deutschen hätten einen härteren Lockdown mitgemacht.
Dass wir da auf die nächste Welle schlechter vorbereitet waren, ist nicht weniger tragisch, hat nur per se erst mal nichts damit zu tun, dass unser Land jetzt unfähiger ist als noch vor ein paar Monaten. Oder alle anderen alles Mögliche besser machen. Was ja ohnehin nicht stimmt. In der ganzen EU mangelt es an Impfstoffen, und so viele Beispiele für perfekt laufende Teststrategien gibt es in Wahrheit auch noch nicht. Umgekehrt unken so manche britischen Experten schon länger, wie ihr Land absteigt. Das hat sich ja nicht plötzlich geändert, weil Herr Johnson wenigstens das Impfen (unter Panik) ganz gut hinbekommen hat.
Es ist wichtig, all das einzuordnen – nicht, weil es die Fehler hiesiger Politiker erklärt, entschuldigt oder kleiner macht. Sondern weil es hilft, die tieferen Ursachen für spätes Impfen, zähes Testen und umherirrende Politiker auszumachen.
Natürlich liegt das Drama ein bisschen am deutschen Föderalismus – und daran, dass Bund und Bundesländer sich alle paar Wochen irgendwie einigen müssen, was viel Konsensbrei erzeugt, wenn in akuter Not schnelle Entscheidungen manchmal besser wären. Oder daran, dass es per se zu viel Bürokratie in Deutschland gibt. Und dass Karl Lauterbach nicht schon lange Gesundheitsminister ist.
Was sich durch alle Probleme zieht: Egal, was schiefläuft oder zu langsam geht, es hat fast immer (auch) mit Spätfolgen etlicher Jahre der steten Verkümmerung öffentlicher Einrichtungen zu tun.
Das gilt für Gesundheits- und andere Ämter, die ja nicht aus mangelnder Einsicht zu wenig Personal haben und mit veralteter Technik ausgestattet sind, sondern weil es in den Schwarze-Null-Dogma-Zeiten über Jahre als lobenswert galt, Etats auf Kante zu nähen und weniger Geld auszugeben. Da war eben auch nichts für Computer übrig. Oder dafür, qualifiziertere Experten und Ingenieure anzuheuern, die die Bürokratie mit moderner Technologie aufpeppen könnten.
Es gilt auch für Schulen, in denen ebenfalls nie Geld da war, um WLAN einzurichten – und stattdessen die Klingelkasse beim Elternabend rumgeht, um den Mangel staatlicher Leistung auszugleichen. Und in denen es im Jahr 2021 schon mal aussieht, als seien für den Dreh zu einer Geschichtsdoku die Kulissen der Siebzigerjahre wieder aufgestellt worden.
Was hilft es, Schulen in der Pandemie zur Ausstattung mit Luftreinigern zu drängen, wenn die betreffenden Kommunen als Auflage eigene Mittel zuschießen müssen, die sie nicht haben? Jetzt gibt es die Lüfter eben oft nicht. Das ist teures Asketentum mit hohem Gesundheitsrisiko.
Selbst das EU-weite Impfdrama wäre nicht passiert, wenn nicht noch so nachschwingen würde, dass nur ein kleiner Staat ein guter Staat sei – und es per se eine Tugend sei, weniger Geld auszugeben. Dann versucht man natürlich, auch beim Geld für die Impfausstattung zu sparen. Das kennen Amerikaner und Briten nicht so.
Geld hilft enorm
Natürlich lässt sich nicht alles mit Geld lösen. Aber es hilft enorm. Wenn die Pandemie etwas lehrt, dann, dass es jetzt und künftig darauf ankommt, all das wieder zu reparieren – und dabei neu zu definieren, ob und wann öffentliche Einrichtungen nicht nur verwalten, sondern auch innovative Beiträge leisten sollten. Solange es keine gute private Alternative gibt. Dann müssen wir auch damit aufhören, solche Behörden als verschlafene Beamtenbuden zu verkaufen. Schon weil das fatal selbstverstärkend wirkt. Wer will als hoch ausgebildeter Kreativkopf schon in so ein Amt – wenn da über Jahre alles darangesetzt wurde, Gehalt, Zulagen und andere Anreize abzubauen oder Beamtenstellen zu privatisieren?
Um das zu ändern, müssten Jobs in Behörden mit starker Zukunftsrelevanz sehr viel attraktiver werden – und die Arbeitsstätten als schicke Innovativbuden daherkommen.
Was die dauernde Selbstkasteiung anrichten kann, haben die Deutschen vor 20 Jahren erlebt: in der Krise der frühen Nullerjahre. Auch damals verlor sich das Land in immer neuem Wehklagen über die eigene Unfähigkeit; was dazu führte, dass den Deutschen über Jahre eingebläut wurde, sie seien zu faul, zu teuer und zu schwerfällig; und alle anderen angeblich besser. Das war auch damals Unsinn. Heraus kam mit viel Lobbydruck ein ebenso diffuser Reigen an (Agenda-)Reformen, die das Narrativ vom nötigen Verzicht bedienten – ökonomisch allerdings von zweifelhaftem Nutzen waren und zu neuen Problemen führten, fragen Sie mal die SPD. Wie eben jenes Dogma vom schlanken Staat und der (folgenden) schwarzen Null, wonach alles als gut galt, was zur Abmagerung öffentlicher Leistungen führte, egal ob sinnvoll oder nicht. So weit, dass dieser Staat in der Pandemie halt zu vielem gar nicht mehr fähig ist; und Faxe, Zettelwirtschaft und Personalmangel gar nicht mehr so schnell wegzukriegen sind.
Es ist Quatsch, den Deutschen inmitten dieser nervenaufreibenden Pandemie jetzt einzureden, dass sie träge, eingeschlafen oder satt sind – was ohnehin wie blanker Hohn klingt für jenes Viertel der Beschäftigten, die sich in oder am Rande des Niedriglohnsektors bewegen. Oder jene zwei Drittel, die glauben, dass das Risiko, sozial abzusteigen, zunimmt. Oder die Mehrheit, die ahnt, dass wir ohne Veränderungen das Klima nicht mehr retten. Auch dafür braucht es nicht mehr oder weniger Staat, sondern einen besseren.
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