Viel Wohlstand, wenig Arbeitslose und ein ganz ordentliches Sozialbudget – und trotzdem sind viele Menschen unzufrieden. Höchste Zeit, dieses Phänomen zum Start des Wahlkampfs aufzuklären.
Thomas Fricke: Superwahljahr – Was läuft wirklich falsch im Land?
Baerbock, Laschet, Scholz: Kaum sind die Personalien geklärt, geht das Gezeter wieder los. Schon sind die anderen wahlweise zu staatsgläubig – oder zu herzlos. Wo die einen alles gleichmachen wollen – oder zu viel Gutes für die Reichen. Vorboten des Wahlkampfs eben.
Drohen uns jetzt Wochen, in denen alles wie immer klingt, sich die politischen Reihen wieder schließen, die jeweils anderen doof sind und keiner mehr nach Erkenntnisgewinn strebt?
Möglich. Umso dringlicher ist es, vor Aussetzen des Erkenntnisgewinn-Modus herauszubekommen, was der Kern dessen ist, was im Land falsch läuft und was für mangelndes Grundvertrauen in Politik und andere sorgt – jenseits der akuten Frage, ob wir nun ab 21 oder 22 Uhr nicht mehr raussollen. Dann könnte sich herausstellen, wie dämlich das ritualisierte Schwarz-Weiß-Schema der vergangenen Jahrzehnte heute ist. Ob Soziales gegen Wirtschaft. Oder Staat versus Markt.
Nach geübt konservativ-wirtschaftsliberaler Lesart würde man sagen, dass es für Unmut in Deutschland eigentlich keinen Grund gibt: Die Wirtschaft ist gewachsen, die Arbeitslosigkeit niedrig – und überhaupt wird viel für Soziales ausgegeben. Wenn überhaupt, müsste es weniger sein.
Warum also zweifeln mehr als die Hälfte der Deutschen, dass das Soziale an der Marktwirtschaft noch funktioniert? Und finden knapp 30 Prozent, dass das wirtschaftliche System grundlegend erneuert werden müsste? Gut möglich, dass hinter dem ökonomischen Entwarnbefund ein Missverständnis steckt – und die Gründe nicht so einfach über althergebrachte Messeinheiten auszumachen sind. Und die Höhe von Sozialbudgets per se auch nichts über die Zufriedenheit mit den Verhältnissen aussagt.
Der Mensch, ein gesellschaftliches Wesen
Der renommierte Berkeley-Ökonom Emmanuel Saez hat dazu kürzlich ein paar spannende Gedanken formuliert*. Anders als es die gängigen ökonomischen Deutungsmodelle annähmen, seien die Menschen keineswegs so sehr auf eigenes Interesse aus – und vielmehr tief im Inneren gesellschaftliche Wesen. Etwas, das in den gängigen Modellen so gar nicht vorkomme.
In mehr als 90 Prozent seiner historischen Evolution habe der Mensch als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen gelebt, in dem viele soziale Funktionen geregelt waren – man sich beispielsweise gegenseitig um die Kleinen, Alten, Kranken gekümmert hat, und die Leistung der Jäger nicht von Boni abhing, sondern durch Regeln, gegenseitiges Abstimmen und Anerkennung getrieben war. Der Grund: Viele Probleme sind eben besser (oder nur) gemeinsam zu lösen – etwa die Jagd von Wild. Da ging es immer mehr um das Wirken als Gruppe als um Individualstreben.
Wofür es wiederum auch gute Gründe gebe. Wie Forschungen gezeigt haben, ist kooperatives Handeln oft schon deshalb für alle gut, um Verteilungskonflikte zu vermeiden.
Im Grunde ersetze der Sozialstaat in modernen Gesellschaften, was die frühere Kooperation und das gegenseitige Kümmern in Familien und kleinen Gruppen ausgemacht haben. Es sei eher, als würde der Mensch zu dem zurückkehren, was ihn über weite Teile der Evolution geprägt habe, schreibt Saez. Dass sich vieles nicht ohne gesellschaftliche Abstimmung hinbekommen lässt, ist nicht erst in einer Pandemie offenbar. Verhaltensforscher haben auch zunehmend Belege dafür gefunden, dass sich vieles, was als sozial gilt, eben nicht gut privatisieren lässt – ob Schulbildung, Rentenvorsorge, der Umgang mit Gesundheitsrisiken oder mit Arbeitslosigkeit.
Anhand von Tests hat sich gezeigt, dass Menschen in der Regel überfordert sind, ihre Gesundheitsrisiken einzuschätzen und danach finanziell zu handeln. Ähnliches gilt für Studierende, denen es schwerfällt, abzuschätzen, wie viel Kredit sie für ihre Ausbildung aufnehmen, sprich: wie hoch die Rendite ihrer Ausbildung am Ende ist, um die Schulden zurückzuzahlen. Oder für alle, die versuchen, für ihre Renten privat vorzusorgen – was eher zufällig gelingt als in weiser Voraussicht. In all den Fällen helfen nur gesellschaftliche Lösungen, so Saez.
Das Kooperativ-Altruistische in uns ist im Alltag viel präsenter
Wie der Forscher darlegt, ist das Kooperativ-Altruistische in uns ohnehin im Alltag viel präsenter: ob in Familien, größeren wie kleinen Unternehmen oder Vereinen und Initiativen. Überall geht es nicht in erster Linie um geldwerte Konkurrenz, sondern um gegenseitiges Abstimmen und Kooperieren. Wir können ziemlich einfach auch eine Gruppenperspektive annehmen und entsprechend handeln, so Saez.
Kurioserweise könnte gerade hier eine Erklärung dafür liegen, warum in westlichen Gesellschaften heute so viel Unmut ist. Denn: Wie der französisch-amerikanische Forscher darlegt, gehört zu den Voraussetzungen dafür, dass wir uns dauerhaft auf Kooperation einlassen, nicht nur ein Hauch von Uneigennützigkeit. Die Bereitschaft bleibe nur dann, wenn gewährleistet sei, dass die Früchte jener Kooperation auf Dauer für alle akzeptabel verteilt sind.
Die Sorge, da könnte ja jeder kommen, mag bei den Deutschen besonders ausgeprägt und von einem Hauch von Neid begleitet sein, ist den Studien zufolge aber schlicht: menschlich. Und Voraussetzung dafür, dass Gruppen und Gesellschaften funktionieren. Womit wir im Hier und Jetzt sind.
Was auf der Liste des Unverständlichen steht
Es hilft wenig, zur Beschönigung auf die hohen Sozialbudgets zu verweisen – oder darauf, dass wir im internationalen Vergleich nach Steuern doch gar nicht so ungleiche Gehälter im Land haben –, wenn Einkommen wie Vermögen de facto heute einfach deutlich stärker auseinanderliegen, als das noch vor geraumer Zeit der Fall war. Dann lässt sich im täglichen Erleben der Menschen eine ganze Liste solcher Dinge aufmachen, die der Bereitschaft zur Kooperation, sagen wir, zumindest nicht sehr zuträglich sind – etwa dann, wenn:
- Menschen erleben, wie alle, die zufällig in besserer Lage ein Haus haben, ohne Zutun endlos reicher geworden sind – während andere mit geringerem Einkommen einen zunehmend größeren Teil für Miete ausgeben müssen, ohne dass das besonders gut nachvollziehbar ist;
- mitten in einer Pandemiekrise die Börse floriert und Aktionäre dicke Gewinne haben, während das Servicepersonal aus dem Restaurant seit mehr als einem Jahr auf Kurzarbeit ist – wenn überhaupt noch;
- Banken in der großen Finanzkrise mit viel Geld gerettet wurden, weil sie sich nicht mehr helfen konnten – in einer Zeit, in der via Agenda 2010 gerade etlichen Menschen im Land erklärt worden war, sie hätten jetzt gefälligst mal selbst für sich Verantwortung zu übernehmen;
- ein Unternehmen wie Wirecard so viel Geld erfinden kann, während andere davon träumen, dass sie am Ende des Monats einmal etwas davon übrig haben;
- Pflegekräfte, die für die Gesundheit der Gesellschaft sorgen, bezahlt werden, als wären sie überflüssig, und eine erfahrene Fachkraft für Zahnprophylaxe weniger als jeder Hilfsarbeiter in der Industrie bekommt.
Wenn es für eine Gesellschaft darauf ankommt, dass die Dinge irgendwie okay und im Verhältnis sind, ist auch verständlich, warum die Partei CDU so jäh an Zuneigung verloren hat, als bekannt wurde, dass ein paar ihrer Abgeordneten just in dem Moment mit Masken Geschäft gemacht haben, als inmitten einer Pandemie der Rest der Menschen zusammenzuhalten versucht hat wie selten. Dann lässt früher oder später die Bereitschaft zum Kooperieren halt nach – oder, um es anders zu drehen: Dann steigt die Wut darüber, dass da die Grundregeln des gesellschaftlichen Gemeinsinns verletzt werden.
Wenn stimmt, dass hinter alledem ein wesentlicher Grund für Unmut und Vertrauensverlust steckt, ist die Frage eben nicht, ob es jetzt zu viel oder zu wenig Sozialstaat gibt.
Wenn Saez‘ Befund stimmt, wollen und brauchen wir das Gesellschaftliche – und sei es als historischer Ersatz für einst familiäre und gruppenmäßige Bindungen und Hilfsstrukturen. Nur braucht es dafür auch Vertrauen in das Wie. Und dann kommt es heute eher darauf an, all die Absurditäten und Schieflagen allmählich wieder abzubauen, die sich zu einem Großteil in jener Zeit entwickelt haben, als die irre Ökonomenidee dominierte, der Mensch komme am besten zurecht, wenn er seinem eigenen Interesse folge. Was am Ende vor allem denen diente, die das am besten ausnutzen konnten – und de facto eine Menge zu auseinandergedrifteten Einkommen, Vermögenskonzentration, Bankenturbulenzen, Skandalen und Finanzexzessen sowie verquerem Gehaltsgefälle im Land beigetragen hat.
So eine Gesellschaft funktioniert auf Dauer nur, wenn nicht ständig Dinge passieren, die vermuten lassen, dass es da nicht mit einigermaßen rechten Dingen zugeht. Da hilft es auch nicht, die Probleme privatisieren zu wollen.
All das hat dann per se nichts mit dem simplen Schema Staat – Markt zu tun – oder mit dem Gezeter zwischen angeblich furchtbar Staatsgläubigen und tollen Freiheitsliebenden. Dann braucht es ein neues Grundverständnis, nicht ob, sondern wie sich so ein Sozialstaat legitimiert. Genug Stoff, an der einen oder anderen Stelle des Wahlprogramms noch ein wenig nachzuschärfen. Sonst wird das mit dem gelegentlich beschworenen gesellschaftlichen Zusammenhalt auf absehbare Zeit nichts mehr.
* »Public economics and inequality: uncovering our social nature«, Emmanuel Saez, NBER Working Paper 28387, Januar 2021
Was Ökonomen wirklich denken
Gästeblock
- David Milleker: Zentralbanken auf dem Weg zu neuen Ufern 3. Dezember 2019
- David Milleker: Wann sind Staatsanleihenkäufe QE? Und wann nicht? 7. November 2019
- David Milleker: Geldpolitische Allmacht oder geldpolitische Hilflosigkeit? 1. Oktober 2019
Mariana Mazzucato: Mission – Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft
Kann man das tollkühne Projekt der Mondlandung als Modell für die Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nutzen? Mariana Mazzucato schlägt in ihrem Buch genau dies vor. Dabei belässt die Ökonomin es nicht bei den üblichen Gemeinplätzen des Weltrettungsgenres, sondern stellt fundierte Analysen voll interessanter Details auf und leitet daraus plausible Hypothesen ab.
Top Artikel & Seiten
- Thomas Fricke: Kampf der Preistreiberei - Wann kommen die Inflations-Kleber?
- Thomas Fricke: Comeback der Bankenkrisen - Wann schließt endlich das Finanzcasino?
- Thomas Fricke: Nachlassende Inflation - Jetzt ist aber mal Schluss mit Zinserhöhung!
- Die Kolumne - Amerika stöhnt auf hohem Niveau
- Thomas Fricke: 20 Jahre Schröder-Rede - Bloß keine Agenda-Wiederholung
- Die Lehren aus der US-Rezession von 1990
- Thomas Fricke: Wohlstand am Ende? - Deutschlands irre Lust am eigenen Untergang
- Thomas Fricke: Ein Jahr Krieg - Von Wahrheit und Lügen zur Inflation
- Thomas Fricke: Deutsche Staatsschulden - Riskantes Comeback der Panikmacher
Archiv
Blogstatistik
- 1.021.571 hits