Von Joe Biden bis Christian Lindner – höhere Staatsdefizite scheint kaum jemand mehr schlimm zu finden. Doch das ist längst nicht immer gut.
Thomas Fricke: Ende der schwarzen Null – Die neue Lust am Schuldenmachen – nur, wofür?
Es liegt etwas von stiller Revolution in der Luft. Über Jahre schien im Land des Wolfgang Schäuble nichts sicherer als das: Der Staat hat gefälligst keine Schulden zu machen. Dass die schwäbische Hausfrau vormacht, wie es geht. Dass man nichts ausgeben soll, was man vorher nicht verdient hat. Widerrede? Canceln.
Nun ist nicht nur pandemiebedingt die schwarze Null als Leitzahl verschwunden – weil die Regierung etliches Geld aufwenden musste, um die Coronarezession via Kurzarbeitergeld und Steuerentlastung aufzufangen. Was gut war. Es scheint sich zunehmend auch der Gedanke breitzumachen, wonach es neben Pandemien noch andere Gründe geben kann, staatliche Schulden aufzunehmen – wenn es einem guten Zweck dient. Die Frage ist eher, was gut ist – und was nicht.
Die Grünen wollen schon lange die Schuldenbremse reformieren – was ihrer Popularität nicht sichtbar zu schaden scheint. Die SPD: ähnlich – nur bei unverändert mangelnder Popularität. Überraschender ist, dass vor ein paar Wochen Kanzleramtsminister Helge Braun anregte, die Schuldenbremse wenigstens noch ein bisschen länger auszusetzen. Und Kanzlerkandidat Armin Laschet plötzlich darüber sinnierte, staatliche Investitionen halt über einen Extratopf finanzieren zu lassen – was de facto höhere Staatsschulden zulassen würde.
Dass die schwäbische Hausfrau in ernsten Schwierigkeiten ist, ist spätestens seit vergangenem Wochenende klar: Seit selbst die FDP ausgegeben hat, man müsse auch mal eine Weile Staatsdefizite hinnehmen – um die Steuern erst einmal auf Pump kräftig senken zu können. Die Partei hat immerhin 60 Milliarden Euro an Entlastung versprochen; das lässt sich schwer aus der Portokasse finanzieren. Egal, heißt es aus der Partei: Man müsse eben erst für wirtschaftliche Dynamik sorgen, um »dann aus den Schulden herauszuwachsen« – weil mehr Wachstum für den Staat auch mehr Einnahmen und weniger Ausgaben bedeuten. Selbstfinanzierung. Pardauz. Das ist die Partei, die vor noch nicht allzu langer Zeit mal das Komplettverbot jeder Staatsverschuldung gefordert hat. Stille Revolution.
Nun ist der Gedanke, dass Staatsschulden nicht per se und immer schlecht sind, nach Stand der modernen Wirtschaftslehre alles andere als irre. Kaum eine internationale Organisation hat nicht schon zu Schäuble-Zeiten regelmäßig Kritik an der deutschen Nulldefizitmanie geübt – vom Internationalen Währungsfonds bis zur OECD. Mittlerweile gilt es unter Ökonomen als abschreckendes Beispiel für überzogenen Eifer, wie die Griechen in der Eurokrise zur Austerität gedrängt wurden, weil das wirtschaftlich mehr geschadet als genutzt hat.
Nach der Krise sinkt die Neuverschuldung
Das ist kein Freischein. Die Frage ist eher, wann genau es legitim und ökonomisch sinnvoll ist, Kredit aufzunehmen. Nur noch wenig umstritten ist unter Experten, dass es in akuten konjunkturellen Krisen besser ist, die Einnahmeausfälle des Staates nicht gleich durch hektisches Kürzen oder Steueranheben ausgleichen zu wollen. Das sieht selbst die Schuldenbremse vor. Und das gilt erst recht im Falle großer Katastrophen wie Corona.
Holen Wirtschaft wie Verbraucher nach solchen Krisen ihre Ausgaben nach – und fallen Staatshilfen wieder weg, sinkt automatisch auch die Neuverschuldung. Nach Prognose der führenden Forschungsinstitute wird das Staatsdefizit Deutschlands 2022 so schon wieder auf 1,6 Prozent der Wirtschaftsleistung fallen – nach 4,5 Prozent dieses Jahr. Ganz ohne große Sparprogramme. Hätte es 2020 nicht so viele Hilfen gegeben, wäre Deutschland in eine tiefe Krise geraten, die den Staat viel mehr gekostet hätte.
Schwieriger wird es, wenn es Regierungen auch ohne akute Krise darum geht, mehr Geld auszugeben oder auf Steuereinnahmen zu verzichten. Doch auch da ist der schlichte Maßstab, ob das lohnt – oder anders gesagt: ob das, was ausgegeben oder an Steuern gesenkt werden soll, am Ende wieder reinkommt.
Hätte man das zu den Blütezeiten der Schwäbische-Hausfrau-Politik mal gecheckt, hätte man womöglich vermieden, vor lauter Schwarze-Null-Eifer viel zu wenig in Schulen, Bahnen und Digitalnetze zu investieren. Was heute teuer zu stehen kommt. Dann wären Schulen und Ämter sehr viel digitaler, und es wäre womöglich viel früher gelungen, die Coronakrise mit all ihren Folgen zu stoppen.
Entsprechend viel spricht jetzt dafür, auch auf Pump in den Umbau der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität zu investieren – etwa in den Ausbau von Ladeinfrastruktur, Gebäudesanierung und Schienenverkehr, was über Jahre an angeblich mangelnden Mitteln im Etat scheiterte. Oder in Bildung – wenn daraus dann viele schlaue Menschen werden, die künftig Geld verdienen und Steuern zahlen. Oder in ein besseres Gesundheitswesen – und in bessere Jobs.
Was es auf Dauer einbringt, wenn wir so in Vorlage gehen, mag sich im Detail nicht so einfach auf Euro und Cent beziffern lassen – es würde aber als Entscheidungshilfe über gute oder schlechte Schulden reichen, das in groben Größenordnungen zu ermitteln. Wobei sich der Nutzen ohnehin nicht immer nur schnöde in fiskalischen Einnahmen ausdrückt. Wenn es für die Zukunft des Landes als wichtig erachtet wird, die Spaltung der Gesellschaft zu stoppen, können auch darauf zielende Ausgaben als ziemlich lohnenswert erscheinen – auch wenn die von Ökonomen abschätzig als Konsumausgaben abqualifiziert werden. Es muss ja nicht gleich die Mütterrente sein.
Investieren in Zusammenhalt
Wenn es etwa einen politisch zunehmend gefährlichen Unmut dämpfen hilft, die Mittel für Familien oder Langzeitarbeitslose aufzustocken, dann kann sich auch das als ziemlich lohnende Investition erweisen. In Großbritannien stimmten nach Auswertungen von Wissenschaftlern vor allem diejenigen 2016 für den Brexit, denen in ohnehin strukturschwachen Regionen von 2010 an auch noch alle möglichen Leistungen gekürzt worden waren – weil die Regierung auf Austerität schaltete. Jetzt sind die Briten raus – und nach Schätzungen des Center for European Reform (CER) hat das allein in den ersten drei Jahren nach dem Votum zu rund drei Prozent Verlust an Wirtschaftsleistung geführt. Da wären weniger Austerität und mehr Schulden am Anfang womöglich billiger gekommen.
Dass auf der anderen Seite nicht alle Schulden gut sind, könnten unfreiwillig gerade die freiheitlich-demokratischen Neulinge im Fach demonstrieren. Die Frage ist, ob die 60 Milliarden, die von der FDP als Steuersenkung in Aussicht gestellt wurden, auch zu so viel mehr Wirtschaftsleistung führen – um den Staat dann plangemäß aus den Schulden wachsen zu lassen.
Die Tücke: Anders als bei direkten Ausgaben des Staates ist nicht sicher, dass das Geld in der Wirtschaft ankommt – schon weil keiner das Geld, was er netto mehr hat, gleich ausgibt; und weil weniger Steuern aller Erfahrung nach auch gar nicht so zwingend dazu führen, dass Unternehmen mehr investieren – sie können das Geld ja auch an ihre Aktionäre ausschütten oder behalten.
Zwar gibt es hier und da Studien, die über längere Zeiträume einen Zusammenhang zwischen Steuern und Investitionen ausgemacht haben. Nur hängt der Erfolg offenbar stark von den Umständen ab. Als in Deutschland zwischen 2000 und 2005 mit der großen Steuerreform in Etappen Spitzen- und Unternehmensteuern stark gesenkt wurden, passierte alles – nur nicht, dass die Investitionen auffällig anzogen. Der Anteil der Ausrüstungsinvestitionen an der Wirtschaftsleistung lag 2008, ein paar Jahre nach der Großreform, mit knapp 8 Prozent sogar niedriger als 2000 mit 8,6 Prozent; kurz vor der Coronakrise waren es nur noch 7 Prozent.
Ähnlich verpufft ist die große Steuerreform, die Donald Trump 2017 in den USA durchdrückte – mit historisch sinkenden Unternehmensteuern. Schätzungen des Internationalen Währungsfonds ergaben, dass dies die Investitionen um keinen Deut stärker hat anziehen lassen, als dies ohnehin sonst der Fall gewesen wäre. Die Trump-Reform war ein Flop, befand kürzlich Nobelpreisträger Paul Krugman – ein teurer Flop: Die Staatsschulden sind wegen der schrumpfenden Steuereinnahmen gestiegen, ohne dass sich das Versprechen von Wachstum und Selbstfinanzierung bewahrheitete.
Vorbild Biden
So etwas Ähnliches könnte nach so einer großen Steuersenkung auch bei uns wieder passieren. In Zeiten, in denen deutsche wie amerikanische Konzerne gerade historische Gewinnrekorde melden, spricht wenig dafür, dass es an mangelnden Finanzmitteln liegt, wenn sie nicht stärker investieren. Da muss es andere Gründe geben. Und dann drohen (zusätzliche) Steuergeschenke zu verpuffen, die noch mehr (Netto-)Gewinn bringen. Das Problem dürfte eher darin liegen, dass den Unternehmen seit Jahren die Absatzperspektiven fehlen – und es in politisch und wirtschaftlich turbulenten Zeiten an jener Sicherheit mangelt, die für große Zukunftsinvestitionen nötig ist.
Das zu beheben, dürfte eher eine große öffentliche Investitions-Initiative über die nächsten zehn Jahre helfen. So wie das in diesen Wochen nicht ganz zufällig der neue US-Präsident Joe Biden angelegt hat – als Lehre aus dem Trump-Flop: mit Investitionsprogrammen und mehr Ausgaben – und im Zweifel höheren Steuern für Reiche.
Es hat etwas Großartiges, dass auch in Deutschland nicht mehr so neurotisch über jedwede staatlichen Schulden gezetert wird. Zu einer richtig guten Politik gehört jetzt allerdings noch, alles, was da an Ausgaben und Steuersenkungen vorgeschlagen wird, systematischer darauf zu prüfen, ob es eine Investition in die menschliche Zukunft ist – und dafür sorgt, dass uns und dem (künftigen) Finanzminister Ärger erspart bleibt.
Dann sollte es dazu auch Regeln geben, die erlauben, dafür Kredite aufzunehmen.
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