Die Union werkelt an ihrem Wahlprogramm. Folgt auf sozialdemokratisierte Merkel-Politik jetzt die große Rolle rückwärts zum Sound der Schröder-Agenda-Jahre? Achtung, Nostalgiealarm!
Thomas Fricke: Arbeit am Wahlprogramm – Predigt die CDU bald wieder Schweiß, Tränen und Verzicht?
Noch ist offen, was herauskommt, wenn in gut zwei Wochen auch die Union ihr Wahlprogramm vorstellt. Noch wird gerungen – und gibt es hier und da nur ein paar Andeutungen vom Wirtschafts-Teamchef Friedrich Merz. Die Versuchung scheint aber in der Luft zu liegen: nach all den sozialistisch geprägten Merkel-Jahren jetzt mal wieder richtig Wirtschaftskompetenz zeigen – zumindest nach konservativen Maßstäben. So wie damals, als der CDU-, äh, rot-grüne Kanzler Gerhard Schröder auf Schweiß und Tränen, staatlichen Rückzug, angebotsorientierte Reformen und allerlei Verzicht setzte, außer für Leistungsträger natürlich.
Ob das per se Wirtschaftskompetenz ist, mag erst mal dahingestellt sein. Die große Frage ist, ob es ins Hier und Jetzt passt – und ob es hilft, an den tatsächlichen Problemstellen im Land etwas besser zu machen.
Was an Rhetorik am Ende des Pandemiejahrs durchdringt, erinnert immerhin schon an die Nullerjahre – wenn man als Referenz das eine oder andere nimmt, was Friedrich Merz so sagt. Oder das, was der Wirtschaftsrat der Union kürzlich als »Empfehlungen für die Wahlprogramme« ausgegeben hat (Vizechef dort übrigens: Friedrich Merz).
Da ist zur mentalen Vorbereitung wieder von der »schwersten Krise« die Rede. Und davon, dass ein »Kassensturz« in den Staatshaushalten nötig werde, also alles auf den »Prüfstand« gehöre. Weil die Schulden angeblich »explodieren«. Und die Wirtschaft unter allem möglichen ächze sowie international (bald) nicht mehr wettbewerbsfähig sei. Weshalb unsere »Leistungsträger« natürlich nicht noch mehr belastet werden dürften – und der Rest des Landes mehr Eigenverantwortung übernehmen und »Eigenvorsorge« betreiben solle. Als wäre wieder 2003. Und es redete der Gerd.
Da müssen – natürlich doch – dringend die Steuern für Unternehmen gesenkt werden, und die Schuldenbremse muss schnellstens wieder wirken. Da darf bloß keine Vermögensteuer kommen, und die Spitzensteuersätze dürfen nicht steigen. Es darf auch keine zusätzlichen Ausgaben etwa für die Pflege geben, dafür muss das Rentenalter angehoben werden, und es muss mehr Ausnahmen vom Mindestlohn geben, wie ohnehin wieder mehr Zeitarbeit und Werkverträge. Und auch wieder mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen. Damit es sich rechnet. Und die große Modernisierung im Land? Kommt durch Entbürokratisierung. Sagt Herr Merz. Ach ja, der Markt sorgt natürlich auch dafür, dass das Klima gerettet wird.
Jetzt könnte schon der Befund vom drohenden Niedergang so etwas wie, sagen wir, kognitive Dissonanz auslösen in einem Land, das gerade eine der längsten Wirtschaftswachstumsphasen geschafft hat, mit einem Rekordabbau der Arbeitslosigkeit und den weltweit höchsten Dauerexportüberschüssen. Und in dem die Schulden selbst nach einer Pandemie noch niedriger sind als nach der Jahrhundertfinanzkrise. Wo der Großteil der Wirtschaft auch ziemlich gut durch die Pandemie gekommen ist.
Als Gerhard Schröder zur Agenda ansetzte, tendierte die Arbeitslosenzahl immerhin Richtung fünf Millionen, und es gab zeitweise weder Wachstum noch Exportüberschüsse. Auch wenn das noch nichts darüber sagt, ob die Agenda 2010 darauf die richtige Antwort war.
In den USA geht der Trend wieder zu höheren Steuern
Wir gönnen es allen, weniger Steuern zu zahlen. Aber die Argumentation, dass diese hier und jetzt dringend für Unternehmen gesenkt werden müssen, weil das zu Investitionen führt, ist nüchtern analytisch nicht zwingend – in einer Zeit, in der die Unternehmen so viel Gewinn machen wie nie zuvor. Geld zum Investieren wäre da. Da helfen dann auch Steuergeschenke nicht. Es ist ja kein Zufall, dass der Trend in den USA wieder zurückgeht – zu höheren Sätzen. Schon weil die irren Geschenke unter Trump wenig gebracht haben.
Ähnliches gilt, wenn es um die Topverdiener im Land geht. Keine andere Gruppe hat seit 2000 auch nur ansatzweise so viel Einkommen dazugewonnen wie die obersten zehn Prozent: nämlich ein Viertel. Das untere Zehntel der Haushalte bekommt heute dagegen monatlich weniger als damals. Da wirkt es schon ein bisschen abwegig, so zu tun, als würde das Abendland untergehen, wenn eben diese Topverdiener ein bisschen mehr Steuern zahlen und so in Not noch etwas mehr zum Gemeinwohl beitragen sollten. Klingt ja ohnehin befremdlich, am Ende der Pandemie (noch immer) von »den« Leistungsträgern zu reden – und damit natürlich nicht Pflegekräfte oder Kassiererinnen zu meinen, sondern die, die aus guten oder weniger nachvollziehbaren Gründen viel Geld kriegen.
Nicht so richtig zeitgemäß mag anno 2021 auch klingen, dass es unter keinen Umständen höhere Steuern auf Vermögen oder Erbschaften geben darf – wo die Topvermögenden im Schnitt heute das Hundertfache der Vermögen in der finanziell unteren Hälfte der Bevölkerung besitzen. Eine Verdoppelung des Faktors seit Agenda-Zeiten.
Und: Wenn es seit der Finanzkrise eine globale Einsicht gibt, dann die, dass solche Gefälle zu den wichtigsten Ursachen für Unmut und Populismus zählen. Erkenntnisfortschritt.
Es mag zu Schröders Zeiten noch als universal hip gegolten haben, die Leute zu drängen, mehr privat für ihre Rente vorzusorgen. Mittlerweile ist klar, dass das nicht geht, wenn 40 Prozent am Ende des Monats gar nichts übrighaben – und es sich nur Wohlhabende leisten können, beim nächsten Crash dann auch mal ein paar Tausend Euro zu verlieren. Da kann die Riester-Rente noch so sehr aufgehübscht werden. In Umfragen sagen mittlerweile 80 Prozent, sie fänden es »schlecht«, dass seit Agenda-Zeiten so viel auf das Prinzip Eigenvorsorge gesetzt worden sei. Wahrscheinlich weil das oft nur eine schöne Formel war, um öffentliche Leistungen zu kürzen.
Ebenso aus der Zeit gefallen wirkt spätestens seit der Pandemie, für Krankenhäuser mal wieder mehr Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit zu fordern. Das haben Spanier und Italiener probiert. In der Krise fehlten dann die Betten. Gesundheit ist halt kein Marktgut. Hier und heute erscheint es dringlicher, dafür zu sorgen, dass die De-facto-Leistungsträger dort endlich mehr verdienen. Da stimmt etwas grundsätzlich in den Verhältnissen nicht. Es geht ja um Leben.
Befremdlich wirkt anno 2021 auch der Ruf nach mehr Ausnahmen vom Mindestlohn, Zeitarbeit und Werkverträgen. Wenn etwas das Land seit Jahren spaltet, dann, dass relativ viele Leute vom Wohlstand nur wenig abbekommen – und sich stattdessen mit Billiglöhnen von Job zu Job hangeln. So ein Land muss auch funktionieren. Ist ja kein Ponyhof für Leute, die möglichst einfach Geld erwirtschaften wollen.
Zu den Erkenntnisfortschritten seit Agenda-Zeiten müsste ebenso zählen, dass es fatal endet, Finanzpolitik nach Kassenlage zu machen – weil dann kurzatmig gespart wird, etwa bei Investitionen oder Ausgaben für Schulen, Unis, Digitalisierung und Bahnnetze. Deshalb drängt die Ökonomenwelt jetzt ja so darauf, bloß nicht zu schnell zur Schuldenbremse zurückzukehren. Es braucht halt Geld, um gegen den Klimawandel zu investieren. Das geht mit den paar Milliarden nicht, die nach Maßgabe der Schuldenbremse an Kredit nur noch aufgenommen werden dürften. Da hilft auch das Gebrabbel vom Maßhalten nichts.
Sagen wir so: Kassenstürze sind etwas für den Kaninchenzüchterverein, nicht für eine so große Volkswirtschaft.
Natürlich ist es immer gut, Bürokratie abzubauen, wo sie nicht zwingend ist. Und in der Pandemie ist manche Absurdität bürokratischer Faxangelegenheiten offenbar geworden. Dass das ganze Land deshalb zu nichts fähig ist, lässt sich allerdings bezweifeln. Zumindest hat der Amtsschimmel nicht verhindert, dass, sagen wir, Biontech die womöglich wichtigste Innovation seit Langem gemacht hat – das geht, wenn es entsprechende Nachfrage und öffentliche Hilfen gibt. Eine zumindest kuriose Form des Leidens.
Die Liste vermeintlich doch leicht aus der Zeit fallender Vorschläge ließe sich noch verlängern: Geht es nach dem Wirtschaftsrat, darf es weder Finanztransaktionssteuern noch weitere gemeinsame EU-Finanzierungen geben – und die Europäische Zentralbank (EZB) sollte auch aufhören, Anleihen zu kaufen und Negativzinsen zu setzen. Was nach gängiger Ökonomielehre mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz schnell in die nächste Finanzkrise führen würde. Noch so eine Erkenntnis: Die Märkte sind halt doch nicht immer so effizient und rational, wie man das in den Neunzigerjahren noch verbreitet dachte. Da braucht es Korrekturen und Stoppmechanismen. Hilft ja nichts.
Es gibt sicher eine Menge Gründe, im Wahlprogramm Dinge zu versprechen, die sich davon abheben, was in den vergangenen Jahren merkelsche Politik mit sozialdemokratischer Unterstützung war. Noch schlechter wäre nur, deshalb gleich wieder auf Rezepte aus längst vergangener Zeit zu setzen. Anno 2021 braucht es ganz neue und originelle Antworten – und einen ganz neuen Mix aus Markt und Staat.
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