Annalena Baerbock als Moses und gemeinsam gegen den Staat: Deutschlands lauteste Wirtschaftslobbys poltern im Wahlkampf für altrabiate Marktreligion. Doch dafür gibt es selbst in der Wirtschaft gar keine Mehrheit.
Thomas Fricke: INSM, Familienunternehmer & Co – Propaganda für die Welt von vorgestern
Der Coup war selbst den eigenen Freunden zu viel. Als vergangene Woche die lobbyfinanzierte »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) zur großen Anzeigenkampagne gegen die Grünenchefin startete, grummelte es auch beim Bundesverband der Deutschen Industrie.
In der Anzeige stand die Grüne als Moses mit zehn Geboten da, nach denen wir jetzt unter anderem (wohl) nicht mehr fliegen, am Freihandel teilnehmen, schöner wohnen, Verbrenner-Auto fahren, uns frei entscheiden und sonst noch einiges tun dürfen. Wegen der Grünen, klar. Das sei halt etwas zugespitzt, versuchten sich die Propagandachefs der Initiative mit dem irreführenden Namen zu verteidigen. Andere fanden das etwas antisemitisch. Man könnte auch sagen: Für so blöd hat vermutlich keiner die Menschen im Land mehr zu verkaufen versucht, seit dereinst die Mauer niederging. Kein Vergleich natürlich, klar.
Dabei scheint die Aktion nur ein weiteres Beispiel dafür zu sein, was seit ein paar Wochen bei Vertretern uriger Wirtschaftslehre in Deutschland umzugehen scheint – ob in Lobbys, vermeintlich wirtschaftsnahen Parteiflügeln oder geneigten Medien. Je näher die Bundestagswahl rückt und die Möglichkeit, dass die Grünen bald regieren könnten, desto wütend-wirrer werden offenbar die Versuche, das noch zu verhindern – und sei es durch Wiederbelebung alt-marktliberaler Glaubenssätze. Plump hin oder her. Da muss dann auch mal Moses ran – dazu ein Set von Teletubby-Sprüchen.
Man muss die Grünen und ihren gelegentlichen Hang zum Belehren nicht mögen. Aber die Panikaktionen wirken so ziemlich allem zuwider, was Ökonomen weltweit spätestens seit der großen Finanzkrise erkannt haben: dass es eben doch der Markt nicht so einfach regelt. Und es eben nicht so einfach ist. Was die Großgeld-Polterer da hilflos zu propagieren versuchen, findet neueren Umfragen zufolge selbst in der eigenen Klientel keine klare Zustimmung mehr. Anders als es der Anspruch der Interessenvertretung vermuten lässt.
Das gilt für die INSM, die gern mal für Unsummen am Berliner Hauptbahnhof gagaesk große Plakate mit inhaltsschweren Botschaften wie »Deutschland fährt besser. Mit Sozialer Marktwirtschaft« aufhängt. Und das könnte auch für Lobbys wie den Verband der Familienunternehmer gelten, der nach eigenen Angaben immerhin 180.000 dieser Betriebe und damit 1,7 Billionen Euro Umsatz vertritt. Die Positionen sind in etwa deckungsgleich.
Da wird über die Jahre recht eifrig und einig gekämpft:
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gegen Vermögensteuern
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gegen höhere Erbschaftsteuern
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stattdessen für sinkende Steuern für Reiche und Unternehmen
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gegen den Mindestlohn
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gegen ein Aus für Verbrenner-Motoren
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gegen Hindernisse, die Leute auf Zeit oder mit Werkverträgen zu beschäftigen
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gegen das Lieferkettengesetz
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gegen Geld-Transfers für andere EU-Länder
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gegen Umverteilung (nach unten)
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gegen Rettungsschirme der Europäischen Zentralbank in Krisenzeiten
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und gegen gemeinschaftliche Finanzierung großer Projekte und Reformen in der EU.
Dazu noch gegen Frauenquoten, Mütterrente und Rente für Leute, die schon sehr lange gearbeitet haben. Rente? Wenn, dann später, klar. Das klingt doch dann auch nach recht eindeutiger politischer Präferenz. Die SPD habe eine »Unzahl verstaubter Politikansätze« und »praxisferne Lösungsansätze«, befindet der Familienunternehmerverband – ebenso wie, dass das Grünen-Programm »nicht die Wahrheit« treffe. Gut, dass wir das jetzt wissen. Während das der FDP sich »wohltuend bis hoffnungsvoll« lese. Ach so.
Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob wirklich alle Menschen, die in Deutschland ein (Familien-)Unternehmen führen (oder in dem Verein Mitglied sind), das auch so sehen. Zumal wir ja anno 2021 (und nicht, sagen wir, im Jahr des Herrn Ronald Reagan) leben, wo heute:
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selbst konservativere Ökonomen einräumen, dass es gut ist, einen Mindestlohn zu haben – und im Zweifel auch eine Erbschaftsteuer;
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die ehedem orthodoxe Industrieländerorganisation OECD Abstand vom Dogma deregulierter Arbeitsmärkte genommen hat – und stattdessen inklusives Wachstum fordert;
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der einst marktliberale Internationale Währungsfonds (IWF) sagt, dass es angesichts auseinanderdriftender Verhältnisse gut sein kann, Vermögensteuern zu erheben; oder eine Corona-Vermögensabgabe;
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Präsident Joe Biden in den USA eine Abkehr von der langjährigen Staatsneurose praktiziert – und endlich wieder in Infrastruktur und Klimarettung investiert;
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es unter Ökonomen weltweit weitgehend Konsens gibt, dass Notenbanken seit der Finanzkrise zu Recht Anleihen kaufen und Zinsen niedrig halten;
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und sich jetzt zeigt, dass auch das Gezeter abwegig war, gemeinsame Anleihen in der EU könnten für Deutschland teuer werden.
Dass all diese Ansichten keine irre Mode sind, wie es in orthodoxen Kreisen kleinzudeuten versucht wird, scheint trotz allen Gepolters auch bei denen angekommen zu sein, die dem Anspruch der Lobbys nach genauso denken müssten wie Propagandachefs von INSM und Familienunternehmen. Das aber offenbar längst nicht immer tun. Darauf lassen Aktionen schließen wie die, mit der vergangene Woche etliche deutsche Millionäre den erst einmal bizarr wirkenden Wunsch zum Ausdruck brachten, stärker besteuert zu werden – weil das Geld gebraucht wird, um Klima und anderes zu retten. Gedanken, die in der Plakatwelt der Großlobbyisten (noch) nicht vorkommen.
Noch deutlicher ist eine Umfrage von Deutsche Bank Research von dieser Woche: Die Experten befragten repräsentativ 200 Unternehmen in Deutschland nach ihren wahlrelevanten Meinungen. Und? Markt rules? Von wegen. Mehr als 40 Prozent der Wirtschaftslenker sagen, dass eine Regierung aus CDU und Grünen zwar einen großen Unterschied bedeuten würde, für Unternehmen aber »den Beginn eines längst überfälligen Umbaus der deutschen Industrielandschaft« – nur 20 Prozent sehen das anders. Fast 40 Prozent sehen durch eine grüne Beteiligung an der Macht auch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands nicht geschwächt. Das klingt in den Pamphleten der Lobbys irgendwie anders.
Was ebenso für die große Frage gilt, ob der Staat es nicht doch gelegentlich richten muss: Ebenfalls gut 40 Prozent der Unternehmensleute sagen, dass »ein höheres Staatsengagement Arbeitsplätze sichert« – und dass der deutsche Staat grundsätzlich im Wettbewerb mit anderen Ländern »aktiver und steuernder agieren« sollte. Stichwort: Industriepolitik. Und: China.
Auch die Angst vor den Kosten der Klimapolitik scheint in der realen Wirtschaft weniger klar als in den Lobbyetagen: knapp 50 Prozent der Wirtschaftspraktiker erwarten für die nächsten Jahre keine nennenswerte Belastung – und unter denen sehen 40 Prozent sogar Vorteile, weil ihre Produkte stärker nachgefragt werden dürften.
Noch größer wirkt der Graben zwischen Einheitsgepolter, wie es die Verbände betreiben, und den Vor-Ort-Firmenansichten, wenn es um die EU geht. Zwar lehnen 60 Prozent ab, dass es eine »dauerhafte gemeinsame Kreditaufnahme« gibt. Mehr als ein Drittel der deutschen Unternehmensleute hält die ach so furchtbare gemeinsame Haftung aber für akzeptabel – und zwar vor allem, weil dadurch wichtige Absatz- und Liefermärkte für das eigene Unternehmen erhalten blieben. Klar, Krisenländer kaufen nichts. Eine simple Einsicht, die auf den Verbandsetagen noch einzutreffen hat. Ein Großteil der Firmen findet all das auch deshalb nicht so schlimm, weil es Kredite derzeit zu extrem niedrigen Zinsen gibt. Standard Makroökonomie 2021.
All das sagt noch nicht, wer am Ende Recht behält. Es ist nur erstaunlich, mit wie viel Verve und unfassbar viel Geld die lautstärksten der Lobbyleute versuchen, den Menschen im Land Dinge einzuhämmern, die weder dem Stand der jüngsten Erfahrungen und modernen Lehre entsprechen noch offenbar das repräsentieren, was die Leute denken, die sie angeblich vertreten. Was immerhin beruhigend ist – zu wissen, dass nicht alle, die etwas im Land unternehmen, deshalb erzkonservative Wirtschaftsansichten oder liberale Marktpredigten aus alten Zeiten vertreten. Das macht hoffnungsvoll.
Die Ansichten seien »manchmal heterogener als Stellungnahmen von Spitzenverbänden es vermuten lassen«, schreiben die beiden Deutsche-Bank-Autorinnen Marion Mühlberger und Jenny Franke. Man könnte auch sagen, dass da bei dem einen oder anderen Gesinnungs- und Parteieifer gerade durchgehen. Dafür gibt’s kein Ruhmesfoto.
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