Die SPD macht vieles, was das Volk will. Nur will das Volk die SPD offenbar trotzdem nicht. Warum eigentlich?
Thomas Fricke: Wahlprogramm und Umfragewerte – Die Sozis liegen richtig falsch
Mit den Umfragen ist es gerade ein bisschen so, wie wenn die deutsche Nationalmannschaft Fußball betreibt. Das geht ordentlich auf und ab. Achterbahn. Da rennt das Volk mal zu Frau Baerbock, um zwei Wochen später doch wieder den langweiligen Herrn Laschet gut zu finden – und irgendwie plötzlich auch die FDP. Keiner weiß, warum. Nur eine Partei ist beständig: die SPD – bei gesichert traurigen 15 bis 17 Prozent. Kann offenbar kommen, was will. Dabei drängt sich hier allmählich dann doch auch die Frage auf: warum eigentlich?
Nein, im Ernst. Das Ding ist ja, dass die SPD, mal ganz nüchtern betrachtet, jetzt keine Partei ist, die beim Regieren ständig Sachen macht, die keiner will, die nicht wirken – und im Volk furchtbar unbeliebt sind. Bei genauerem Lesen der entsprechenden Hinweise scheint sie da im konkreten Fall doch gut vorherrschende Präferenzen anzusteuern. Warum will das Volk die SPD dann nicht – und fast so gern die FDP?
Von der Rente mit 63 über die Kindergrundsicherung bis zur Vermögensteuer – alles dabei
Es trifft ja in der Tat einen Nerv, wenn die regierenden Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren eine Menge darangesetzt haben, etwa einen früheren Renteneintritt für Langzeitschufter durchzubringen, den Druck auf Arbeitslose zu nehmen, Arbeitnehmer besser zu schützen oder auch sonst mehr Soziales zu machen. Nach Umfragen stimmen regelmäßig mindestens die Hälfte der Deutschen dem Befund zu, dass das Prinzip des sozialen Ausgleichs bei uns nicht mehr funktioniere. Treffer. Fast 90 Prozent finden, dass eher zu viele öffentliche Leistungen privatisiert wurden. Und dass die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zunehmend zum Problem für den Zusammenhalt der Gesellschaft wird. Auch das ja als Befund nicht unbedingt Kerngebiet, sagen wir, der FDP.
Das Gleiche gilt für aktuelle Wahlthemen, wie Umfragen der Meinungsforscher von Civey vermuten lassen. Die SPD will eine Kindergrundsicherung? Finden fast 60 Prozent der Leute im Land »eher« oder »eindeutig« richtig – und nur jeder Vierte mehr oder weniger falsch. Den Mindestlohn auf zwölf Euro anzuheben, wie die Sozis es im Programm haben? Fänden nach Civey-Auswertung 43 Prozent »angemessen« – und, Achtung, weitere 38 Prozent »zu niedrig«. Mit der Position von CDU und FDP, so einen Mindestlohn zu hoch zu finden, kriegt man im Volk gerade mal Zustimmungswerte um die 16 Prozent.
Ähnliches kommt heraus, wenn es darum geht, nach sozialdemokratischer Vorschlagslage die Vermögensteuer wieder einzuführen – Gruselthema bei Union und FDP. Das fänden knapp 55 Prozent »eher« bis »sehr« positiv, wenn damit sozialpolitische Maßnahmen finanziert würden. Ein Paradies für Sozis. Miese Vermögensteuer? Finden in Deutschland gerade einmal 34 Prozent.
Mehr? Fast 70 Prozent im Land halten es für »gerechtfertigt«, wenn »der Staat bei überhöhten Mietpreisen in den freien Wohnungsmarkt eingreift«. Auch da müssten die Sozis eigentlich höhenfliegen.
Die Führungskräfte kommen nicht gerade als Bierzeltkracher herüber
Nicht so ganz falsch scheint auch gewirkt zu haben, dass der Sozi-Kassenwart vergangenes Jahr schnell viel Geld mobilisiert hat gegen die Coronakrise – so glimpflich ist wirtschaftlich kaum ein anderes Land durchgekommen.
Und? Auch das scheint beim Volk nicht in der Form anzukommen, dass es in Dankbarkeit jetzt die Absicht kundtut, SPD zu wählen.
Jetzt kann so etwas natürlich daran liegen, dass die Führungskräfte nicht gerade als Bierzeltkracher herüberkommen. Also nicht so ganz. Andererseits kommt Olaf Scholz im Kanzlervergleich persönlich gar nicht so schlecht weg. Kann auch nicht der Grund sein. Die Umfragelage spricht ebenso dagegen, dass die SPD jetzt dringend mal wieder so einen konservativen Sozi bräuchte wie Gerhard Agenda Schröder. Gibt ja Mehrheiten für Vermögensteuer und Mindestlohn – nicht dagegen. Die Popularität solcher Vorschläge lässt auch an der Erklärkraft der gängigen Diagnose zweifeln, wonach den Sozis halt die Arbeiterschaft abhandengekommen ist. Stimmt, die wählen heute oft andere. Aber offenbar nicht deshalb, weil die SPD nicht Dinge macht, die gerade Geringverdienern zugutekommen.
Was hinter dem Rätsel steckt, könnte noch etwas anderes Grundlegendes sein: Aus Umfragen und Studien kommt immer auch heraus, dass die Leute nicht nur sozial im Notfall aufgefangen werden, sondern auch wieder mehr Kontrolle über ihr eigenes Schicksal haben wollen. Dazu braucht es mehr als nur Absicherung, vielmehr eine Politik, die viel aktiver wird, um Krisen zu verhindern und dort Neues entstehen zu lassen, wo der Markt nichts mehr richtet.
Wenn es dann darum geht, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern, braucht es auch ein neues Verständnis dafür, was als Leitmotiv so wirkt, dass im Grunde alle daran glauben. So wie das über drei Jahrzehnte funktioniert hat, als Globalisierung und Marktwirtschaft als Heilsversprechen galten – und alles danach ausgerichtet war, beides voranzutreiben. Und alle irgendwie glaubten, dass das schon (fast) allen zugutekommen wird. Das hat so lange funktioniert, bis die große Finanzkrise den Zauber hat auffliegen lassen.
Ein Leitmotiv fehlt
Seitdem herrscht bei uns wie in Post-Trump-Amerika oder Brexit-Land ein ideelles Vakuum, das Populisten mit viel Systemzweifeln zu nutzen und zu nähren versuchen. Es wäre umso dringender, dieses Vakuum durch ein neues, besseres Leitmotiv zu ersetzen – mit ein paar Grundsätzen, wie Klimakrise und Abstiegsängste zu lösen sind, sodass es allen am Ende besser geht – und an die alle glauben, ohne dass deswegen alles richtig sein muss, was Politiker machen. So wie einst beim Aufstiegsversprechen der Nachkriegszeit.
Wenn hier die tiefere Krise moderner Demokratien liegt, liegt nahe, dass es eben nicht reicht, nur mit Einzelmaßnahmen wie Mindestlohn oder Grundrente hier und da an den Schäden der alten Zeit zu reparieren. Dann braucht es nach allem menschlichen Ermessen auch ein glaubhaftes Versprechen, dass jeder sein Schicksal selbst wieder in die Hand nehmen kann – und sei es mit gemeinschaftlicher Hilfe. Vielleicht so etwas, wie es Joe Biden seit Januar in den USA zu lancieren versucht – mit etlichen großen Programmen für Jobs, Investitionen und Klimaschutz gleichzeitig, die an den New Deal der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts erinnern. Auch so ein Beispiel erfolgreicher gesellschaftlicher Leitmotive.
Zwei Arten, mit der Krise umzugehen
Dass so etwas helfen könnte, die SPD aus der Krise zu holen, scheinen die zu ahnen, die das Programm geschustert haben. Staatliches Handeln gleiche oft einem »politischen Reparaturbetrieb« mit zu viel »Klein-Klein«. Steht da. Wohl wahr. Nur dass das, was dann kommt, eben immer noch wie eine Sammlung mehr oder weniger guter Ideen wirkt, für die es im Volk im Einzelfall auch große Mehrheiten gäbe. Nur, mehr auch nicht. Da reicht es nicht, die großen Kapitel zu »Missionen« zu deklarieren. Dadurch entsteht noch kein neues übergreifendes Leitmotiv samt einfachen Sätzen, die sich einprägen – besser als »Win-win-Situationen« oder »sozial-ökologischer Umbau«. Nicht wirklich Gassenhauer, die begeistern.
Vielleicht weil es das einfach auch noch nicht als Vorlage gibt – dafür ist auch der Versuch von Biden noch zu frisch.
Es gibt nach Durchsicht aller nunmehr vorliegenden Wahlprogramme 2021 zwei verzweifelte Arten, mit der Vertrauenskrise in Globalisierung und Marktwirtschaft umzugehen. Die eine ist, wie die SPD möglichst viel vorzuschlagen, was dem Volk offenbar gefällt und den Unmut nach Stand der Kenntnis abbauen könnte – ohne dafür eine bislang zündende Gesamtidee zu haben.
Die andere ist, wie CDU und FDP zwar Bedarf zu erahnen, mangels neuer Ideen aber noch einmal in den Retromodus zu gehen – von Leistungsträgern und soliden Haushalten zu fabulieren, als würde das Klimakrise oder Abstiegsängste beheben. Und Steuersenkungen derart zu versprechen, dass alleinstehende Topverdiener Tausende Euro zusätzlich im Jahr netto haben. Das findet wenigstens in der eigenen Klientel noch genug Zustimmung – obwohl selbst unter FDP-Wählern fast 30 Prozent, Obacht, für eine Vermögensteuer wären.
Die Vertrauenskrise ist weder so, noch so weg. Nicht dass sich nachher jemand wundert.
Was Ökonomen wirklich denken
Gästeblock
- David Milleker: Zentralbanken auf dem Weg zu neuen Ufern
- David Milleker: Wann sind Staatsanleihenkäufe QE? Und wann nicht?
- David Milleker: Geldpolitische Allmacht oder geldpolitische Hilflosigkeit?
- David Milleker: Zeit für eine multipolare Währungsordnung?
- David Milleker: Ist Modern Monetary Theory ein valides Konzept?
- David Milleker: Einige Gedanken zu Libra
- David Milleker: Der Handelskrieg und internationale Vorleistungsketten
- David Milleker: Der veraltete Instrumentenkasten der US-Notenbank
- David Milleker: Übernimmt Trump die Fed?
- David Milleker: Wie schlecht steht es um die deutsche Konjunktur?
Out of Wirtschaftsdienst
- Wirtschaftsdienst exklusiv – Die goldenen Zwanziger
- Wirtschaftsdienst exklusiv – Von der Leyens fünf Herausforderungen für ein besseres Europa
- Wirtschaftsdienst exklusiv – Verursachen Target-Salden Risiken für die Steuerzahler?
- Wirtschaftsdienst exklusiv – Autoindustrie: Zwischen Disruption und weiter so
- Wirtschaftsdienst exklusiv: Zeitarbeit geht zurück
- Wirtschaftsdienst exklusiv: 12 Euro Mindestlohn? Auswirkungen und Perspektiven
- Wirtschaftsdienst exklusiv: The Rise of Trumpism
- Wirtschaftsdienst exklusiv: EZB nicht für Niedrigzinsen verantwortlich
- Wirtschaftsdienst exklusiv – Evidenzbasierte Politik für Deutschland
- Wirtschaftsdienst exklusiv – 20 Jahre Euro: (k)eine Krise
Buchbesprechung
- Moritz Schularick: Der entzauberte Staat
- Justin Walsh: Investing with Keynes
- Adam Tooze: Welt im Lockdown – Die globale Krise und ihre Folgen
- Binyamin Appelbaum: Die Stunde der Ökonomen – Falsche Propheten, freie Märkte und die Spaltung der Gesellschaft
- Hans-Peter Martin: Game Over – Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle – und dann?
- Adan Tooze: Crashed – Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben
- Richard Thaler: Misbehaving – Was uns die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen verrät
- Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt: Gescheiterte Globalisierung – Ungleichheit, Geld und die Renaissance des Staates
- Dani Rodrik: Straight Talk on Trade – Ideas for a Sane World Economy
- Kate Raworth: Die Donut-Ökonomie – Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört
Mariana Mazzucato: Mission – Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft
Kann man das tollkühne Projekt der Mondlandung als Modell für die Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nutzen? Mariana Mazzucato schlägt in ihrem Buch genau dies vor. Dabei belässt die Ökonomin es nicht bei den üblichen Gemeinplätzen des Weltrettungsgenres, sondern stellt fundierte Analysen voll interessanter Details auf und leitet daraus plausible Hypothesen ab.
Top Artikel & Seiten
- Thomas Fricke: Rezession in Deutschland - Vorsicht vor den falschen Krisenpropheten!
- Impressum
- Wirtschaftsdienst exklusiv - Wirkt die Geldpolitik auf die Realwirtschaft?
- Thomas Fricke: »Letzte Generation« - Wie der Radikalprotest die Klimapolitik bremst
- Friedrich A. v. Hayek - Die Verfassung der Freiheit
- Die Lehren aus der US-Rezession von 1990
- Datenschutz
- Thomas Fricke: Wohlstand am Ende? - Deutschlands irre Lust am eigenen Untergang
- Thomas Fricke: Heizungsverbote und Kostenschock - Klimaschützen geht auch ohne Masochismus
- Thomas Fricke: Deutschland hat riesige Probleme – und droht sich in Aufregung über Trauzeugen zu verlieren
Archiv
Blogstatistik
- 1.024.850 hits