Finanzkrise, Eurokrise, Coronakrise, Klimakrise: Die Europäische Zentralbank mischt bei einer Alarmsituation nach der anderen mit. Dabei ist sie doch vor allem für stabile Preise zuständig. Oder etwa nicht?
Thomas Fricke: Überforderte Zentralbank – Wenn Notenbanker die Welt retten müssen
Es lag schon eine Weile in der Luft – jetzt ist es raus: Europas Notenbanker wollen künftig dazu beitragen, das Klima zu retten. So verlautbarte Christine Lagarde, Chefin der mächtigen Europäischen Zentralbank, nach interner Strategiedebatte. Der EZB-Rat habe einen umfassenden Aktionsplan beschlossen, um »Überlegungen zur ökologischen Nachhaltigkeit systematischer in seiner Geldpolitik zu berücksichtigen«, hieß es am Donnerstag.
Und das Gezeter in Deutschland ist sofort groß, zumal die Notenbanker schon seit Jahren ungewöhnlich stark intervenieren und etwa Staatsanleihen kaufen: So viele Aufgaben überforderten die Währungshüter, die doch nur für die Wahrung von Preisstabilität zuständig sein sollten, schimpfen einige.
Wirklich? Was auf den ersten Blick naheliegend wirkt, könnte sich bei näherer Betrachtung als verklärte Schönwettervorstellung dessen herausstellen, was Aufgabe von Notenbanken ist – aus einer Zeit, in der die Welt noch einfacher schien. Wenn Währungshüter rund um den Globus heute immer wieder massiv eingreifen, hat das ja weniger mit einer plötzlichen Laune zu tun, sondern womöglich damit, dass es heute viel mehr Krisen und tiefere wirtschaftliche Schieflagen gibt. Da braucht es wahrscheinlich eine sehr viel grundlegendere Neudefinition dessen, was Zentralbanken tun, als es die EZB jetzt formuliert hat – und sehr viel mehr Schutz vor den Ursachen der eigentlichen Missstände.
Multimilliardenbeträge in wenigen Stunden
Klar wirkt es irre, wenn Notenbanken monatlich zweistellige Milliardenbeträge an Anleihen von Staaten und Unternehmen aufkaufen – oder wie beim Ausbruch der Coronapandemie in Krisennot binnen Stunden Multimilliarden aufkaufen, weil an den Finanzmärkten zunehmend Panikverkäufe getätigt werden. Das hat mit der urigen Vorstellung nur noch wenig zu tun, wonach die heiligen Währungshüter in Unabhängigkeit gelegentlich mal die Leitzinsen um einen Viertelprozentpunkt anheben oder senken.
Ebenso irre ist nur, zu suggerieren, die geschätzten Notenbanker hätten damit so mir nichts, dir nichts angefangen – etwa weil sie damit irgendwelchen Finanzministern einen Gefallen tun wollten.
Wieso dann? Nach althergebrachtem Verständnis sollten die Notenbanker über das Auf und Ab der Zinsen schlicht und einfach für Preisstabilität sorgen – in guten Zeiten höhere Zinsen, damit Konjunktur und Preise nicht überschießen (und umgekehrt). Denn von stabiler Kaufkraft haben alle gleichermaßen etwas, hieß es. Und weil alle anderen wirtschaftlichen Ziele – ob Vollbeschäftigung, ordentliche Staatshaushalte oder gut funktionierende Finanzmärkte – entweder von allein laufen oder durch die Regierenden zu gewährleisten sind. Nach dem Motto: Was haben die Notenbanker mit all dem zu tun? Da ergibt es auch Sinn, die Hüter des Geldes mit dieser vermeintlich neutral-technokratischen Aufgabe allein zu lassen – und sie möglichst unabhängig zu machen, wie das über Jahrzehnte als Diktum galt.
Mit der Wirklichkeit hat das Traummodell aber zunehmend weniger zu tun – schon seit in den Achtzigerjahren die große Deregulierung und Globalisierung der Finanzmärkte ihren Lauf nahm. Kein Zufall: Erstmals massiv intervenieren mussten die Währungshüter 1987, als nach dem ersten Schub der Finanzderegulierung in den USA und Großbritannien die Aktienmärkte vor Freude erst eskalierten – und dann im Herbst crashten.
Es folgten finanzeuphorisierte Booms und anschließende Crashs in Japan, Südostasien und anderen Schwellenländern in den Neunzigerjahren, später die Euphorie und der Crash rund um die Hightech-Revolution und die (angebliche) New Economy. Nicht zu vergessen: der große (Immobilien-)Crash 2008. Anschließend die Eurokrise. Ähnliches Muster. Und aktuell, als die Notenbanken nach Ausbruch der Pandemie zu Hilfe eilten.
Rettung geglückt, die Finanzparty geht weiter
Jedes Mal mussten die Notenbanken ran und retten – und sei es wie bei Mario Draghi 2012 schlicht über: Wir retten, egal was es kostet. Da reichte schon die Botschaft, um Spekulationen aufs Euro-Aus zu ersticken. Krise weg.
Sicher, jede Rettungsaktion hat an sich wieder dazu beigetragen, dass die Finanzparty weitergehen konnte – nur ist die Rettungsaktion der Feuerwehr dafür nicht weniger dringlich gewesen. Die lokale freiwillige Feuerwehr rückt ja auch aus, egal wer das Feuer gelegt hat.
Je stärker der Einfluss der Finanzmärkte samt auseinanderdriftender Vermögen, desto wackeliger ist auch die Annahme geworden, dass das, was die Notenbanken jenseits akuter Krisen tun, per se völlig neutral und für alle gut ist. Natürlich ist es nicht egal, wie hoch die Zinsen sind. Von hohen Sätzen profitieren vor allem die, die viel Vermögen haben, und es leiden die Schuldner. Umgekehrt führt jede Rettungsaktion wie zuletzt in der Coronakrise dazu, dass etwa die Banken, die dadurch wieder mehr Geld haben, auch wieder mehr Geld in Aktien investieren – was die Kurse treibt und dazu beigetragen hat, dass die oberen zehn Prozent, die das Gros der Aktien halten, überdurchschnittlich von der Krise profitiert haben. Umgekehrt ist nicht unwichtig zu erörtern, was ohne Intervention realwirtschaftlich passiert wäre: wenn alle Erfahrung darauf hindeutet, dass etwa dank niedriger Zinsen ein Finanzcrash verhindert wurde, der am Ende zulasten der weniger Betuchten gegangen wäre.
So ein Finanzcrash endet oft mit hoher Arbeitslosigkeit und fallenden Einkommen. Ähnliches gilt für die Geldpolitik auch außerhalb akuter Krisen. Wenn Notenbanken eine Inflation mit höheren Zinsen bremsen wollen, funktioniert das auch darüber, dass bei höheren Zinsen schlicht weniger investiert wird – und es im Zweifel mehr Arbeitslose gibt.
Geldpolitik lässt sich nicht auf das pure Überwachen stabiler Preisniveaus reduzieren
Ähnliches gilt im Grunde auch für die Klimakrise. Auch da ist die Annahme eher gewagt, nach der die Notenbanker sozusagen klinisch neutral agieren. Wenn sie vermeintlich gleichmäßig-neutral Anleihen von Unternehmen kaufen, die das Klima aber stark schädigen, tragen sie in Wirklichkeit auch dazu bei, dass es umso länger dauert, bis diese Unternehmen in klimaneutrale Produktion investieren. Das zementiert bestehende Strukturen in einer Zeit, in der es gesellschaftlicher Konsens ist, dass sich die wirtschaftlichen Strukturen zur Rettung des Klimas möglichst schnell wandeln müssen. Was wäre da demokratisch?
Es hat jedenfalls etwas Absurdes, wenn Notenbanken anno 2021 monatlich so viel Geld ausgeben, um Anleihen zu kaufen, ohne mit dem vielen schönen Geld aktiver zur Lösung des womöglich dramatischsten Problems unserer Zeit beizutragen. Zumal nicht auszuschließen ist, dass bei den nächsten Klimaschocks all jene Finanzwerte abstürzen, die noch stark an fossilen Energien hängen – was wiederum den nächsten Crash nach sich ziehen könnte. Auch das wäre nicht im Interesse unserer Währungshüter.
All das zusammen stellt fundamental infrage, wie sich die Urväter der klinisch-neutral-unabhängigen Notenbankerwelt das vorgestellt hatten. Geldpolitik ist (heute) weder neutral noch gesellschaftlich auf das pure Überwachen stabiler Preisniveaus reduzierbar. Sosehr es die Notenbanker und ihre Vordenker auch wünschen. Was sie tun, ist de facto immer politisch und demokratisch relevant.
Natürlich ist es ein Problem, wenn Notenbanken über so wichtige Dinge wie Finanzstabilität, Vermögensverteilung und Arbeitslosigkeit irgendwie doch mitentscheiden müssen – ohne dass sie dafür gewählt wurden und demokratisch hinreichend Rechenschaft abgeben müssten. Nur ist die Wirklichkeit nun einmal so. Und es hilft nichts, dafür die Retter zu schelten – man schimpft ja auch die Feuerwehr nicht dafür, dass sie zur Löschung des Waldbrands angerückt ist und beim Löschen alles nass gemacht hat.
Wer nicht will, dass die EZB so massiv interveniert, Staatsanleihen kauft und die Zinsen noch etwas niedriger hält als ohnehin schon, der sollte sich dringend dafür einsetzen, die Finanzglobalisierung wieder so stark unter Kontrolle zu bringen, dass nicht die halbe Welt am Wankelmut regelmäßig abdriftender Spekulation hängt, Banken sich stattdessen wieder stärker auf ihre Hauptaufgabe konzentrieren, reale Investitionen zu finanzieren, und es überhaupt weniger Stoff zum Spekulieren gibt – sprich: es nicht alle paar Jahre zum nächsten irren Boom und zum nächsten großen Crash kommt. Bis dahin ist es zwar bitter, wenn Notenbanken immer wieder intervenieren müssen. Nur hilft’s ja nichts, wenn bei Nichteingreifen sehr viel schwerere reale Krisen mit Arbeitslosigkeit und Deflation drohen.
Da muss man die Brandursachen bekämpfen – nicht die Feuerwehr.
Utopie? Wirkt so. Nur lohnt sich der Versuch. Wenn das eines Tages gelingt, die Finanzwelt wieder aufs Wesentliche zu schrumpfen, brauchen Notenbanker nicht mehr in der Not Krisen zu beenden. Oder mit Daueraufkäufen die Deflation zu verhindern. Oder die Zinsen noch etwas niedriger zu halten. Oder damit zu leben, dass die eigene Politik die Aktien-Reichen noch aktienreicher macht. Es bräuchte womöglich nicht einmal Aufregung darum, ob die Notenbanker dem Klima helfen sollten oder nicht. Die Frage nach grünen oder braunen Anleihen würde sich ja umso weniger stellen, je weniger Anleihen die Währungshüter zur Stabilisierung der Welt kaufen müssten.
Das wäre dann fast wieder wie früher – vor der großen Finanzsause.
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