Kürzlich galt Italien noch als schlimmstes aller Euroländer, jetzt wird das Land vorschnell als Wachstumschampion gefeiert. Dabei kann so ein Sensationsgebrabbel böse enden.
Thomas Fricke: Post-Corona-Boom – Das Märchen vom italienischen Wirtschaftswunder
Es klingt ein bisschen wie im Märchen. Seit in Italien Super Mario Draghi herrscht, ist das Land plötzlich dynamisch. Ist zu lesen. Vor einem Jahr noch galt, dass dort nichts eigentlich funktioniert. Jetzt zeigten alle Indikatoren auf Besserung, so heißt es. Und vor allem wachse die Wirtschaft so stark wie kaum sonst wo – und stärker als bei uns, hoppla.
Schon jubelt es in einer süddeutschen Zeitung, das Land sei jetzt »Konjunkturlokomotive«, erlebe einen »magischen Moment«. Eine Europa-Sensation sei das, gab kürzlich Welt-Zerklärer Gabor Steingart kund, ansonsten verlässlicher Italo-Klischee-Fan und Draghi-Dauer-Schimpfer.
Wir haben an dieser Stelle bereits gelegentlich darzulegen versucht, dass ein Großteil der Klischees vom faulen und prassenden Italiener schon lange an der Realität vorbeigehen. Und es ist den Italienern nach den vergangenen Jahren und vor allem dem Coronadesaster zu wünschen, dass sich das wirtschaftlich endlich auszahlt.
Die jüngsten Jubelarien sind aber so blöd (begründet), dass sie tückisch zu enden drohen – zumal falsche Diagnosen das Risiko falscher politischer Reaktionen in sich bergen, selbst wenn sie gut gemeint sind. Zeit für einen mathematischen Zwischenruf.
Wer tiefer fällt, holt stärker auf
Richtig ist, dass für Italiens Wirtschaft zuletzt eine Wachstumsrate geschätzt wurde, wie es sie sonst kaum irgendwo gab: 2,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal im Frühjahr. Allerdings steckt dahinter noch kein Wunder, sondern erst mal ein Aufholeffekt. Und wie stark dieses Aufholwachstum je nach Land ausfällt, ist derzeit per se auch eher davon abhängig, wie schockartig im betreffenden Fall die Pandemie zuvor gewirkt hat, als dass es etwas über Stärken und Schwächen sagt. Eigentlich nicht schwierig.
Weil in Italien in der Pandemie Geschäfte, Büros und Fabriken sehr viel härter geschlossen wurden, gibt es seit Aufhebung des Lockdowns natürlich auch mehr wieder hochzufahren als, sagen wir, bei uns, wo es trotz allen Wehklagens nie richtige Ausgangssperren gab. Was sich in einem Land wie Italien statistisch in entsprechend eindrucksvoll höheren Wachstumsraten für die Wirtschaft insgesamt ausdrückt – zumal ein und dasselbe Umsatzplus auf niedrigerem Niveau rein arithmetisch zu prozentual höherem Wachstum führt als auf höherem Niveau.
Anders als in Deutschland gab es in Italien auch in der Industrie viel Coronastillstand – klar, dass es da beim Wiederhochfahren verglichen zum Stillstand höhere Produktionssteigerungen gibt, und bei uns nicht, wenn (zumindest) in der Industrie, außer in der Zeit des ersten Schocks, nur wenig heruntergefahren wurde.
Wie sehr der Aufholeffekt die aktuellen Wachstumsranglisten bestimmt, lässt sich leicht ablesen: besonders hohe Raten werden für 2021 ja nicht nur für Italien (fünf bis sechs Prozent) erwartet, sondern auch für Frankreich, Spanien und Griechenland (zwischen sechs und acht Prozent) – also just die Länder, deren Wirtschaft 2020 durch Tourismus– und andere coronabedingte Schocks mit Raten von acht bis elf Prozent überdurchschnittlich stark eingebrochen war. Und die gar keinen Super-Mario haben. Umgekehrt fällt, logisch, das Wachstum bei uns mit rund vier Prozent jetzt niedriger aus, weil die Wirtschaftsleistung 2020 auch nur um vergleichsweise moderatere fünf Prozent geschrumpft ist.
Mit wie viel Vorsicht die aktuellen Statistiken zu lesen sind, wird deutlich, wenn man die Wirtschaftsleistung mit der vor Corona vergleicht. Dieser Vorkrisenvergleich fällt für Italien bisher sogar eher ernüchternd aus. Im ersten Quartal 2021 lag das Bruttoinlandsprodukt trotz allen Aufholens noch um fast sieben Prozent unter dem Niveau von Ende 2019, also kurz vor Ausbruch der Pandemie. Seitdem hat sich die Lage zwar verbessert. Nach den jüngsten Prognosen der EU-Kommission dürften die Italiener zusammen mit den Spaniern dennoch als letzte in der EU wirtschaftlich wieder auf Vorkrisenniveau zurückkehren – und das erst im dritten Quartal kommenden Jahres. Bis dahin geht es erst mal nur darum, Coronaverluste wettzumachen. Für Deutschland rechnen die Brüsseler Experten damit schon in diesen Wochen. So viel zu magischen Momenten.
All das heißt nicht, dass aus dem italienischen Aufholen nicht auch noch ein wirkliches Wunder werden kann. Klar hilft da jemand wie Mario Draghi als Vertrauenszugabe. Und klar, hat Italien dank der Mittel aus dem Next-Generation-Fund der EU auch die Chance, viele verpasste Investitionen der vergangenen Sparjahre nachzuholen – nicht zuletzt im Gesundheitssektor. Deshalb jetzt schon die Sensation auszurufen, ist aber fahrlässig. Ob Italiens Wirtschaft über eine längere Zeit wirklich stärker zulegt als andere – und damit auch viel Verlorenes aus der Vor-Corona-Zeit wettmacht –, wird zu einem wahrscheinlich maßgeblichen Teil davon abhängen, wie gut das Land jene Staatsdefizite und Schulden managt, die in der Not der Pandemie dazugekommen sind. Hier liegt die eigentliche Gefahr.
Zwar wird ein Teil der staatlichen Ausgaben automatisch wegfallen, weil sie nur in der Pandemie nötig waren. Trotzdem dürfte der Fehlbetrag im italienischen Staatshaushalt 2022 nach gängigen Prognosen noch bei fünf bis sechs Prozent des BIP liegen. Sollte die Regierung über wankelmütige Finanzmärkte oder EU-Partner wie den eifrigen Ösi-Chef Sebastian Kurz in Kürze unter Druck geraten, eben dieses Defizit schnell wieder unter die alte Maastricht-Marke von drei Prozent zu führen, droht eine ähnliche Ernüchterung wie nach der Eurokrise. So eine Rückführung heißt ja nichts anderes, als dass die Regierung über höhere Steuern oder gekürzte Ausgaben wieder Geld aus der Privatwirtschaft abzieht – jenes Geld, das derzeit dank EU-Hilfen noch als Hoffnungswert für eine italienische Renaissance gilt.
Spätestens dann droht den Italienern das Schicksal von Annalena Baerbock: absurd schnell hochgejubelt – um dann umso eindrucksvoll absurder wieder zum Krisenfall erklärt zu werden. Vorsicht vor falschen Jublern.
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