Wie Deutschland gefühlt in die Hyperinflation abglitt – und dann doch noch knapp überlebte. Ein Entspannungs-Leitfaden für Preisneurotiker.
Thomas Fricke: Angst vor steigenden Preisen – Inflationspanik bei Friedrich Merz und Co.
Um eins vorwegzunehmen: Verglichen mit der Zeit vor einem Jahr ist eine ganze Menge in Deutschland gerade spürbar teurer. Damals war gerade die Mehrwertsteuer gesenkt worden; durch die wirtschaftliche Schockstarre der Pandemie waren die Preise für Rohstoffe und damit Benzin kollabiert – und den Betrieben saß die Angst so tief, dass viele froh waren, überhaupt noch etwas umzusetzen. Da kommt man nicht auf die Idee, Preise zu erhöhen. Für Verbraucher wunderbar. Nur halt nicht ewig.
Mittlerweile ist die Mehrwertsteuer wieder auf dem alten Niveau, die Rohstoffpreise schossen wieder hoch (und noch weiter), und auch der ein oder andere Betrieb hat seine Preise erhöht, seit der größte Schock überwunden ist – und die Leute unbedingt wieder verreisen wollen. Was dazu führt, dass der Unterschied zwischen den Lebenshaltungskosten jetzt und den Sonderpreisen vor zwölf Monaten gerade ziemlich unschön ausfällt – und für August mit 3,9 Prozent die höchste Vorjahresinflation seit drei Jahrzehnten gemeldet wurde.
Bei Deutschlands legendären Inflationsneurotikern führt das seit Wochen zu immer dollerem Inflations-Kopfkino. Ohne dass das immer alles so ganz stringent nachvollziehbar wäre, um es vorsichtig auszudrücken.
Höchste Zeit für ein paar fachlich-handwerkliche Hinweise zur korrekten Untermalung von Inflationspanik – oder halt Entwarnung.
Gesinnungseifrige Klamauk-Experten
Wie schnell das gehen kann. Da kommt erst der Statistikrekord. Fast vier Prozent. Dann der Bundesbankchef, der eigentlich mit einiger Vorsicht formuliert, seine Fachleute hätten gesagt, die Inflation »könnte« bis Dezember »in Richtung fünf Prozent« gehen. Schon doziert Armin Laschets Phantomwirtschaftsexperte Friedrich Merz, die Inflation werde dieses Jahr vier und »nächstes Jahr« fünf Prozent betragen. Huch. Wer bietet mehr? Weltgroßökonom Gabor Steingart, immer: Der rechnet schon mal grobkantig vor sich hin, was solche fünf Prozent in einem ganzen Jahr an Geldvermögen entwerten (ohne den Wertzuwachs einzurechnen, klar) – und was drei Prozent über zehn Jahre bedeuten. Arme Vermögende. Da kann man dann gleich auch mal diagnostizieren, dass die aktuelle Lage »Erinnerungen an die Hyperinflation« der Weimarer Republik wecke, wie es eine recht alte deutsche Tageszeitung kürzlich schon mal gemutmaßt hat. Und dann einen Ökonomen etwas rührig seinen Opa zitieren ließ – what the hell.
Deutschland. Untergegangen im Spätsommer 2021. Alter Schwede, das ging dann aber doch recht schnell.
Nun ist das Thema zu ernst – und für gerade die wichtig, die am Ende des Monats hart kalkulieren müssen – um es gesinnungseifrigen Klamauk-Deutern zu überlassen. Zumal, wenn die vermuten lassen, dass sie mit der Statistik überfordert sind. Es hat etwas von Realsatire, wenn eine größere deutsche Wirtschaftszeitung sich großspurig in Häme übt, die Ökonomen hätten diese Inflation nicht vorhergesagt – um sich dann gleich im zweiten Satz der Beweisführung mit Niveau und Prozent zu verheddern. Nein, nicht das Preisniveau hat per se einen Rekordstand erreicht, sondern die rechnerisch-prozentuale Steigerungsrate zum Vorjahr. Superbenzin ist heute billiger als vor zehn Jahren – bei seither gestiegener Kaufkraft der Leute.
Was der Herr Bundesbank-Präsident gesagt hat, ist auch nicht, dass die Inflation im Schnitt des Jahres 2021 vier oder fünf Prozent erreicht. Da dürften es nach jüngsten Prognosen eher 2,7 Prozent sein – was wiederum weniger ist als zu den viel gelobten alten Bundesbank-Zeiten.
Sondern, dass es in einzelnen Monaten gegen Jahresende vorkommen »könnte«, dass der Abstand (zum außergewöhnlich schwachen Level der zweiten Hälfte 2020) »in Richtung« fünf Prozent geht. Von nächstem Jahr war gar nicht die Rede, lieber Herr Chefökonom Merz. Da prophezeit auch der Bundesbankchef deutlich sinkende Raten – was auch nicht so schwer ist, weil dann der Basiseffekt der gesenkten Mehrwertsteuer wegfällt.
Damit es überhaupt zu der vermeintlichen Einzelmonatsprophezeiung von Jens Weidmann kommt, müssten die Verbraucherpreise allein von Monat zu Monat jetzt um 0,3 Prozent steigen – was wiederum einer Jahresrate von fast vier Prozent entspräche. Der Trend der vergangenen Wochen spricht eher dagegen: Der geht eher wieder zurück, wie Martin Sandbu von der »Financial Times« diese Woche vorrechnete.
Für alle Hyperinflations-Gedenk-Fans: Das Desaster ist jetzt ziemlich genau 100 Jahre her, und die Teuerung war damals jeden Tag irgendwann bei etlichen Prozent – da reichen 0,3 Prozent im Monat nicht, das schaffen wir diesmal mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach nicht.
Jetzt wäre es auch unsinnig, völlig auszuschließen, dass die Zeit der extrem niedrigen Inflationsraten der vergangenen Jahre vorüber ist – oder sein »könnte«, um es mit dem Bundesbankchef zu sagen. Dafür würde kurzfristig schon ein weiterer Ölpreisschub reichen. Allerdings wird es dafür wichtiger sein, in den nächsten Wochen die Entwicklung von Monat zu Monat etwa an den Rohstoffmärkten zu beobachten, von denen ein Großteil der Teuerung der vergangenen Monate bei uns kommt – und nicht über Rekordraten der deutschen Inflation zu fabulieren, die mehr mit dem niedrigen Niveau vor einem Jahr zu tun haben als mit aktuellen oder künftigen Trends. Zumal selbst im Könnte-Szenario des Bundesbankchefs schon absehbar ist, dass die Vorjahresinflationsrate wie automatisch wieder niedriger ausfallen wird.
Sicher ist, dass im Januar der Basiseffekt der gesenkten Mehrwertsteuer wegfällt. Allein das wird die gerechnete Vorjahresteuerung um etwa einen Prozentpunkt sinken lassen.
Ziemlich wahrscheinlich ist, dass bald auch ein paar Effekte nachlassen, die mit dem Nachholen der Wirtschaft nach den Lockdowns zu tun haben. Da hat zum Beispiel mancher Tourismus-Betrieb nachvollziehbar versucht, entgangene Einnahmen reinzuholen. In den USA gebe es schon jetzt Anzeichen dafür, dass die Teuerung von Monat zu Monat wieder nachlässt, so »Financial Times«-Ökonom Sandbu. Hinzu komme, dass überall die Produktivität wieder anzieht – was neue Kapazitäten schafft und ebenfalls den Inflationsdruck dämpft. Auch sinken seit Monaten die zwischenzeitlich stark gestiegenen Preise für Industrierohstoffe wieder.
Die Jojo-Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte lässt vermuten, dass auch an den anderen stark spekulativ getriebenen globalen Rohstoffmärkten dem jüngsten Run früher oder später mal wieder ein Kurscrash folgt. Auch das gehört auf die Liste der Faktoren, die eher gegen als für anhaltenden Preisdruck sprechen. Bereits beim nächsten Ölpreiscrash könnten all diejenigen ziemlich schnell ziemlich blöd dastehen, die jetzt schon mal voreilig die Hyperinflation in Aussicht stellen.
Für Entspannung spräche auch das, was Ökonomen als Folge vergleichbarer Schockstarren in der Vergangenheit identifiziert haben – etwa nach dem Zweiten Weltkrieg. Da kam es jedes Mal über eine gewisse Zeit zu Preisschüben, weil viel Nachholnachfrage auf (teils sogar stark) begrenztes Angebot stieß. Jedes Mal war der Schock aber auch relativ bald überwunden.
All das lohnt schon deshalb einen nüchterneren Blick, weil allzu viel Inflationspanik in Wahrheit auch mehr schadet als hilft. Allein weil es ökonomisch gar nicht schlecht ist, wenn Preise moderat steigen – das ist in guten Zeiten ein Zeichen dafür, dass die Wirtschaft läuft. Umso mehr, wenn die Löhne auch wieder mitziehen. Anders als sie das in den Zeiten scheinbar toller Niedriginflation taten. Was auch die Sorge vor großen Lohn-Preis-Spiralen ziemlich absurd erscheinen lässt. Bevor das außer Kontrolle gerät, muss noch viel mehr passieren als ein paar Monate höhere Vorjahressteigerungsraten bei den Preisen.
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