Die Koalitionäre in spe wollen ein gemeinsames Projekt. Dafür reicht es allerdings nicht, nur große Schlagwörter wie Modernisierung oder Digitalisierung vorzutragen. Es braucht ein neues Leitbild.
Thomas Fricke: Mögliche Ampelkoalition – Mission für Deutschland, nur welche?
Eins muss man Christian Lindner und den Seinen lassen. Wenn es ums Verkaufen geht, kommt da keiner ran. Da wird das Stagnieren beim Wahlergebnis mal schnell in die Formel umgewandelt, dass man jetzt zweimal über zehn Prozent war. Toll. Obwohl der Chef in Wahrheit ja mit dem großen Versprechen gerade etwas kläglich gescheitert war, die Grünen zu überholen. Da wird die eigene Partei auch mal zu »einer der vier mittelgroßen« selbsterklärt. Mutig. Wenn man so weit hinter den anderen ist – und mit elf Prozent auch nicht so richtig mittelgroß.
Egal. Seither schreiben alle, dass die FDP zu den Wahlsiegern zählt. Bingo.
Jetzt wollen wir das nicht minder schätzen. Sollte Lindner auf eigenen Wunsch tatsächlich Finanzminister werden, können wir jedenfalls davon ausgehen, dass Deutschland in vielen internationalen Imagerankings in den kommenden Jahren weit oben stehen wird – oder es zumindest so aussehen wird. Vielleicht hilft das Verkäufer-Gen auch dabei, für die jetzt avisierte Koalition mit SPD und Grünen ein paar schöne gemeinsame Slogans zu finden.
Womit wir beim Thema der Woche sind: den Sondierungen zur (verkehrten) Ampelkoalition. Geht es nach eigenem Bekunden, gilt es, zwischen den drei inhaltlich und philosophisch nicht immer ganz harmonierenden Parteien eine gemeinsame Vision für Deutschland auszumachen. Etwas, was so einen Koalitionsvertrag trotz unterschiedlicher Klientel zusammenhält – jenseits einzelner Positionen. Ist ja auch eine ziemlich gute Idee. Nur dass dafür nicht ausreichen wird, ein paar naheliegende Großstichworte zu kombinieren – wie Modernisierung, Digitalisierung und, sagen wir, Klima. Marke: Fortschritt.
Etwas finden, das verbindet
Worum es heute geht, ist mehr – und das gilt nicht nur für Deutschland: Weltweit wird gerade danach gesucht, jenes Leitmotiv der vergangenen Jahrzehnte mit einem neuen zu ersetzen, das naive Hyperglobalisierung mit technokratischer Verwirtschaftlichung aller möglichen Lebensbereiche vereinte. Ein Leitbild vom heiligen Markt, das mit der Finanzkrise zu kollabieren begann. Das zu ersetzen, um die Probleme einer Gesellschaft mit drohenden Klimakrisen, Demokratieskepsis und finanziellem Auseinanderdriften zu lösen, versucht nicht nur Joe Biden in den USA; das versuchen auch etliche Institutionen aus der Alten Welt, wie etwa der Internationale Währungsfonds. Dafür braucht es kluge Ideen im Einzelfall. Dafür braucht es anno 2021 aber auch eine grundlegend neue Anleitung, die verhindert, dass es durcheinandergeht – damit die Leute den Glauben darin wiederfinden, dass Leitgedanken und Richtung stimmen, und Politiker jenseits aller Streits die richtige Linie verfolgen.
Auch wenn das erst mal abstrakt klingt: Es spricht viel dafür, dass eine Gesellschaft mit ihren Millionen ziemlich unterschiedlichen Menschen so etwas braucht, was sie einigermaßen zusammenhält. Und dass es seit dem Kollaps des alten marktliberalen Leitbilds noch kein wirklich stimmiges Neues gibt, das die Leute verbindet und Politikern Orientierung gibt, was gut und nicht gut ist, eher Reparaturbetrieb: ein bisschen Mindestlohn hier, ein bisschen Klimaschutz dort.
Wenn das stimmt, reicht es nicht, jetzt einfach ein paar große Schlagworte aneinanderzureihen. Wie Modernisierungsjahrzehnt. Was in der aktuellen Sondierung so etwas ergeben könnte wie die sozialgerecht-klimaneutral-wachstumsfördernde Fortschrittskoalition.
Ich sag nur: Es gab nie mehr zu tun
Dann geht es ums Wie. Klar ist es prima, blöde Bürokratie abzubauen. In der Praxis steckt hinter den meisten Regeln nur irgendein Grund, der nicht immer abwegig ist. Allein mit Entbürokratisierung wird sich auch nicht ansatzweise der Stau in den Ämtern auflösen lassen. Da gehört dann auch Geld dazu. Und mehr Personal. Was zu der viel schwierigeren Frage führt, wie sich Verwaltungen besser ausstatten lassen – und effizient zugleich. Wo mehr Personal dringend wäre – und wo es einfach nur einfachere Regeln bräuchte. Alles eben nicht so einfach wie auf dem einen oder anderen Wahlplakat. Ich sag nur: Es gab nie mehr zu tun.
Es ist auch prima, für besseren Netzempfang auf dem Dorf zu sorgen – und für schnelleres Internet. Mit dem anscheinend so positiven Buzzword Digitalisierung verbinden viele nur etwas ganz anderes auch: Etwa die Frage, wie besser vorgesorgt werden kann, wenn ganze Branchen in ihrer Existenz bedroht sind – und die Betreffenden das Digitalisieren dann doch nicht so toll finden. Zumal die Begeisterung für die Ablösung des Menschen durch künstlich-intelligente Wesen in der Bevölkerung nicht ganz so groß ist.
Ebenso wenig passt in alte Schemata, wie die großen Internetkonzerne unter Kontrolle zu bringen sind, wenn die viel mehr Macht erlangt haben, als es all die schönen Modelle vom freien Markt und Wettbewerb mal vorgaben.
Was für neue Technologien gilt, gilt auch für den viel beschworenen Umbau zum klimaneutralen Leben. Ein Großthema, das bis dato auf emotional geladene Moralfragen wie Fleischkonsum oder Autofahren reduziert worden ist. Natürlich ist es naiv zu glauben, das Klima ließe sich durch Marktmechanismen retten. Da braucht es einfach auch viele öffentliche Investitionen. Und: Was passiert, auch hier, mit Regionen, die wirtschaftlich fast ausschließlich von der alten Autoindustrie gelebt haben? Da klingt der Appell an die Eigenverantwortung ja rasch nur noch hohl bis zynisch.
Dass in solchen Umbrüchen der Markt wenig bringt, haben Regionen wie der Rust-Belt in den USA erfahren, als dort die China-Konkurrenz einbrach; da gingen ganze Städte pleite. Wie Detroit. Noch wird es mit dem getan sein, was manchen Grünen als Schnellrezept vorschwebt: den Leuten als Ausgleich für steigende Benzinpreise mal ein bisschen Geld via, sagen wir, entlasteter Stromrechnung zu geben. Das hilft denen wenig, die durch die Transformation ihren Job verlieren. Das spricht nicht gegen den Umbau, aber zeigt, dass dazu sehr viel mehr gefragt ist.
Zur Vision einer funktionierenden Gesellschaft gehört auch, ob sich das Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse noch einmal umkehren lässt – zwischen denen, die Häuser erben oder sonst wie zu den Gewinnern zählen; und denen, die sich von Job zu Job hangeln – und sich selbst mit relativ anständigem Einkommen keine Wohnung in der großen Stadt mehr leisten können. Das geht auf Dauer nicht gut. Da ist naiv zu glauben, dass sich all das durch ein bisschen Vermögensteuer verkehren lässt – oder durch schnelleres Bauen; das wird die Immobilienpreise in entsprechender Lage nicht ansatzweise wieder auf tragbare Niveaus sinken lassen. Es sei denn beim nächsten Crash.
Hinter all dem steckt mehr als nur die üblichen Fragen, ob – für SPD-Anhänger – dies oder das besser sozial begleitet werden muss, – für Grüne –radikalere Verbote hermüssen und – für FDPler – wieder mehr zu privatisieren ist. Da braucht es ein neues Verständnis dafür, wie Wirtschaft funktioniert; wie besser auseinanderzuhalten ist, wann es der freie Wettbewerb am Markt effizient hinbekommt – und wann nicht; wie der Staat seine Rolle neu und besser definiert, ohne sich aus wichtigen Aufgaben herauszuziehen noch zu viel Geld in Dinge zu stecken, die auf Dauer wenig bringen – und wie all das in Politik einfließt, was jenseits schnöder Marktlogik oder Administration wichtig ist.
Ob wir künstliche Intelligenz zulassen oder nicht, ist eben nicht nur eine Frage des Machbaren und des Gelds, sondern auch der Ethik. Ebenso wie die Frage, ob und wie schnell wir den Klimawandel stoppen wollen.
All das gilt es neu auszuloten, vielleicht auch als Aufgabe für die nächsten vier Jahre. Ohne so ein Leitbild zu formen, ist das Risiko für die mögliche rot-grün-gelbe Regierungskoalition hoch, dass die Dinge nicht zusammenpassen: etwa der Versuch, das Reichtumsgefälle am Wohnungsmarkt zu reduzieren, mit einem Vorhaben wie der Abschaffung des Soli, der den oberen zehn Prozent zugutekommt. Oder der Versuch, klimaneutral zu werden, mit der Entscheidung der Bahn, die Preise anzuheben. Absurd, aber real.
Es braucht ein neues Grundverständnis dafür, wann Politiker dafür da sein sollten, Lösungen zu finden, wenn es die Wirtschaft definitiv nicht hinbekommt. Wie solche Fälle am besten zu erkennen sind, ohne Willkür walten zu lassen. Und wer die kontrolliert, die dann entscheiden.
Was sich seit dieser Woche politisch abzeichnet, könnte zur Ironie der Geschichte werden: Als vor knapp vierzig Jahren das technokratisch-wirtschaftsliberale Dogma vom heiligen Markt in Deutschland wie andernorts Einzug hielt, kam der politisch entscheidende Impuls von einer Partei namens FDP, die damals ein Wendepapier verfasste – und aus dem sozialliberalen Zeitalter ins konservativ-liberale wechselte.
Jetzt könnten es mehr die Umstände sein, die zu einer neuen Wende beitragen – wenn die drei Ampelkoalitionäre versuchen, so eine neue Vision fürs Land zu finden. Und die FDP dabei mitmacht, sich vom technokratisch-schnöden Wirtschaftsliberalismus der vergangenen Epoche zu verabschieden. Wenn auch diesmal wider des deklarierten Festhaltens am heiligen Marktgral. Und ohne Wendepapier. Dafür mit einem moderneren Liberalismus.
Noch ist es nicht so weit. Aber wenn es das ist, können wir in der sich gerade abzeichnenden Regierungskonstellation davon ausgehen, dass es gut vermarktet wird.
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