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Thomas Fricke: Jenseits von Atomausstieg und Ehe für alle – Merkels schwarzes Erbe

3. Dezember 2021
Konservative schimpfen auf die Kanzlerin, sie habe Partei und Land sozialdemokratisiert. So ein Quatsch. Deutschland ist nach 16 Jahren Merkel noch immer top im Alles-beim-Alten-Lassen.

Beim Amtsantritt von Angela Merkel lag Deutschland nach einem Ranking von Germanwatch und Partnern an der Spitze, was die Klimapolitik angeht. Gegen Ende der Kanzlerschaft reichte es gerade noch für einen Platz unter den ersten 20 (von 60) Ländern. Merkel bewahre. Das kommt dem konservativen Ideal vom eher behäbigen Wandel immer näher, wenn auch nicht unbedingt der Lösung des Klimaproblems.

Richtig gut schnitt die Kanzlerin bei einem weiteren konservativen Leitmotiv ab: beim Vermeiden von Gleichmacherei. Zwar hat sich seit 2005 der Abstand zwischen hohen und weniger hohen Einkommen nicht mehr weiter verschärft – allerdings war er davor stark gestiegen und ist seitdem trotz jahrelangen Wirtschaftswachstums kaum gesunken. Dieser Entwicklung kam zuletzt nur die Einführung des Mindestlohns in die Quere. Von wegen Sozi: Spitzeneinkommen wurden unter Merkel niedriger besteuert als unter Helmut Kohl. Überhaupt sind die (angeblichen) Leistungsträger mit den höheren Einkommen unter der Kanzlerin so gut weggekommen wie keine andere Gesellschaftsgruppe. Noch nie hat umgekehrt über so lange Zeit ein so großer Teil der Leute im Land zu Niedriglöhnen gearbeitet.

Wie die OECD kürzlich herausgefunden hat, war es seit Generationen für junge Menschen in Deutschland nicht so schwierig wie jetzt, in die Mittelschicht aufzusteigen – deutlich schwerer als in den meisten anderen OECD-Ländern. Da kann man von Gleichmacherei nun wirklich nicht reden. Von 100 Kindern, die in armen Haushalten aufwachsen, sind in Deutschland 68 auch noch arm, wenn sie erwachsen sind, so die OECD. Noch schlechtere Aufschließmöglichkeiten gibt es nur in 5 von 26 OECD-Ländern. Es bleibt, wie es ist.

Noch klarer sind die Verhältnisse, wenn es um Vermögen geht. In kaum einem anderen vergleichbaren Land ist der Reichtum ungleicher verteilt. Bevor Merkel startete, hatten die oberen zehn Prozent etwa 50 Mal mehr als im Schnitt die untere Hälfte der Bevölkerung. Gegen Ende ihrer Amtszeit ist es das 100-fache.

Wirecard war wohl kein Zufall

Wenn Konservative sich daran messen, dass sie besondere Freunde der Wirtschaft sind, gibt es auch hier nach 16 Jahren nicht viel zu meckern. Die Unternehmen machen so hohe Gewinne wie nie zuvor. Der Aktienindex Dax hat sich seit Antritt der Kanzlerin sage und schreibe verdreifacht – von 5000 auf 15.000 Punkte. Sozialismus sähe anders aus. So nett wie bei uns geht man nicht überall mit Leuten um, die viel Geld haben und damit Unfug treiben. Kein Zufall, wenn bei uns Wirecard und andere Skandale passieren.

Umgekehrt lässt sich auch nicht sagen, dass in Deutschland der Staat entgegen konservativer Vorstellung per se zu groß geworden wäre. Die Verwaltung ist gelegentlich sogar mit dem Phänomen konfrontiert, den einen oder anderen Wunsch der Bürger mangels Ausstattung nicht sofort erfüllen zu können. Manchmal auch gar nicht. Ist zwar nicht ideal, kommt im Zweifel aber eher dem konservativen Ideal vom schlanken Staat nahe als dem des allmächtigen.

Was wiederum an etwas liegt, das sich unter Angela Merkel in Deutschland ebenso gut gehalten hat: jenes konservative Grundverständnis von Finanzpolitik, das zum Kuriosum der schwarzen Null ebenso geführt hat wie zur Eskalation der Eurokrise oder dazu, dass selbst in Notlagen endlos gezaudert wird, bevor Geld für ziemlich wichtige Investitionen mobilisiert wird – ob für Aktionen zur Rettung des Klimas, bei denen bloß die Schuldenbremse nicht gebrochen werden darf; oder um Leute zu motivieren, sich impfen zu lassen. Dann lieber vierte Welle. Bleibende Werte.

Das ist im Grunde auch kein Wunder in einem Land, in dem konservativ-ordoliberale Denker nach 16 Jahren Merkelschaft immer noch so präsent sind – obwohl es an Signalen ja nicht mangelt, dass sich mit den alten Rezepten nur sehr bedingt die Probleme von heute lösen lassen. In Deutschland haben sich 2021 führende Ökonomen etwas konfus, aber eifrig gegen »neues Denken« gewendet. Kein Scherz. Lieber auf alte Werte setzen. Deutsches Kuriosum.

Nimmt man all das zusammen, wirkt die Geschichte von der Kanzlerin, die Partei und Land ganz furchtbar progressiv hat werden lassen, dann doch arg befremdlich. Deutschland steckt nach 16 Jahren immer noch weit stärker in alten konservativen Rollenbildern als Länder wie Frankreich oder die skandinavischen Staaten. Die Klimapolitik hat zunehmend konservative Züge bekommen. Und von Gleichmacherei ist bei Einkommen wie Vermögen nichts zu spüren – im Gegenteil. Selten ging’s Wirtschaft und Finanzwelt finanziell so sensationell gut wie in all den Merkel-Jahren.

Ein Rätsel? Weil es so gar nicht zum Image der Kanzlerin passt? Oder vielleicht einfach nur der Trick einer Kanzlerin, die mit ein paar nicht konservativen Symbolentscheidungen erfolgreich nicht konservative Wähler gewann – ohne dass es an der in vieler Hinsicht konservativen Ausrichtung im Land viel geändert hat.

Viel Stoff für eine neue Regierung. Nach Merkel.

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