Was treibt Wladimir Putin an? Und wie lässt sich stoppen, was er da anzurichten begonnen hat? Die Antworten liegen bei Militärs, Strategen, Cyberexperten, Sanktionsfachleuten und ein bisschen auch bei Psychologen. Und doch schwingt in diesen dramatischen Stunden eine womöglich für die nächsten Jahre ebenso wichtige Grundsatzfrage mit: Warum in diesen Zeiten Autokraten wie Putin, Chinas Xi Jinping, Ungarns Viktor Orbán oder der türkische Präsident Erdoğan zunehmend Mut zur Provokation zu spüren scheinen. Und warum der Westen von den Betreffenden immer wieder an der Nase herumgeführt zu werden scheint.
Eine tiefere Ursache könnte weniger in militärisch-diplomatischen Schwächen des Westens liegen, als darin, dass jenes vermeintlich universelle wirtschaftliche Modell an Strahlkraft krachend verloren hat, das den Westen spätestens nach dem Mauerfall und über lange Zeit wie selbstverständlich als Vorbild wirken ließ.
Auf welch fatale Weise das heute fehlt, lässt sich beim Rückblick in die Wendezeit erahnen. Damals war in der globalen Wahrnehmung der Systemwettbewerb entschieden, die Geschichte (der Ideologien) zu Ende – und das anglo-amerikanische Modell von Wirtschaft und Globalisierung galt als einzige Wahrheit: ob die Idee vom grenzenlosen Wettbewerb, der stets für mehr Leistung und Vielfalt sorgt; oder der Glaube an die Finanzwelt, die umso effizienter lenkt, je mehr sie in Sekunden das Geld um den Globus schießen lässt; oder das Versprechen, dass der Markt das Meiste im Leben am besten regelt.
Damals wurden die marktradikalen Chicago Boys wie selbstverständlich in die zerfallende Sowjetunion geschickt, um dort puren Kapitalismus zu predigen. Da versprach die chinesische Staatsführung wie selbstverständlich, die möglichst liberalste Wirtschaft zu haben – und einen wenig regulierten Arbeitsmarkt für möglichst billige Arbeitskräfte. Um Investoren im globalen Wettbewerb anzuziehen. Und westliche Marktprediger zu Tränen zu rühren. Da war klar, dass man der Welthandelsorganisation beitritt. Da gab es von Internationalem Währungsfonds und Weltbank Einheitsrezepte für alle: bloß keine Kapitalverkehrskontrollen und keine staatlichen Interventionen, dafür im Zweifel Austerität. Diplomatieexperten nennen so etwas »soft power«: Macht ohne militärische Mittel.
Das Modell begann zu bröckeln, schon als Ende der Neunzigerjahre die erste Finanzkrise über die Schwellenländer hereinbrach – und Russland mit sich zog. Weil eben die Finanzmärkte doch stark zu Herdentrieb neigen – und Länder mal im Rausch hochspekulieren, um das Kapital dann in besagten Sekunden wieder abzuziehen.
Was so eine ausgewiesene Finanzkrise bedeutet, bekamen kurz darauf auch Amerikaner und andere im Westen zu spüren: erst beim Absturz der New Economy – und dann mit der Großen Finanzkrise ab 2007 samt folgender Eurokrise ab 2009. Wobei schon die Lehman-Krise im Westen zu einem abrupten Vertrauensverlust in die einstigen marktliberalen Versprechen geführt hat. Nach Umfragen befinden heute nur noch etwa die Hälfte der Leute in Deutschland, dass die Marktwirtschaft etwas per se Gutes ist.