Es gibt in diesen Tagen Dinge, die sehr nebensächlich sind. Etwa dass dies die 1000. Kolumne ist, die ihr Autor nach inoffizieller Zählung im Laufe der vergangenen fast drei Jahrzehnte für verschiedene Medien geschrieben hat. Zumal es gerade nicht so wirkt, als sei die Welt danach heute besser als beim ersten Mal, also 1995. Zumindest auf den ersten Blick.
Anlässlich der runden Zahl noch mal näher hinzugucken, was sich in der Zeit geändert hat, bringt trotz aller düsterer Aktualität nur etwas potenziell Positives hervor: Gut möglich, dass wir gerade die Turbulenzen eines Übergangs durchmachen – weg von einer irren Vorstellung, wonach sich die Welt irgendwie von allein regelt, zu etwas Neuem, das in Konturen schon erkennbar ist. Die Frage ist nur, ob erst noch größere Katastrophen passieren müssen, um die bessere neue Welt durchbrechen zu lassen.
Als die erste der Vorgängerinnen dieser Kolumne erstellt wurde, war Helmut Kohl noch Kanzler, die Währung hieß D-Mark und der orthodoxe Bundesbankchef Hans Tietmeyer. Dem Einheitsboom folgten gerade der Absturz im Osten und teure Rechnungen für den Westen. Der Kapitalismus zelebrierte seinen Nach-Mauerfall-Siegeszug. Auf den Finanzmärkten begann die regelfreie Sause mit all ihren Schattenbanken- und Derivate-Exzessen. Die Industrieländerorganisation OECD erklärte den Abbau von Schutzregeln für Arbeitnehmer zum Wohlstandsfördermittel. Und der Internationale Währungsfonds (IWF) drängte alle Welt, auf Kapitalkontrollen völlig zu verzichten. Weil Kapitalmärkte immer effizient seien.
Markt-Ayatollahs und die Wunder-Agenda
Unter Ökonomen galt 1995 die Idee als hip, dass Staaten gar nicht genug kürzen und sparen können – und dass solcher Abbau irgendwie für Wachstum sorgt. Die kommende Euro-Zentralbank sollte ganz nach Bundesbank-Vorbild agieren, sich auf Preisstabilität konzentrieren. Von möglichen Finanzkrisen war keine Rede. Es galt: Je mehr Billionen Kapital in Sekunden um den Globus schießen, desto besser – auch für die Menschen. Im deutschen Sachverständigenrat saßen als vermeintliche Wirtschaftsweise damals stramm konservative Ökonomen (keine Frau, wo kommen wir da hin), ganz auf Linie der damals herrschenden ordo-marktliberalen Lehre. Großmotto: Je losgelöster Konzerne und Firmen machen können, was sie für gut halten, desto besser für alle.
Alles, was diesem Mantra nicht folgte, wirkte damals wie eine kauzige Sonderbarkeit: Sowohl das Warnen davor, dass Märkte irren Herdentrieben unterliegen können, als auch die Überzeugung, dass man in Rezessionen nicht gerade noch den Haushalt konsolidieren sollte; oder der dezente Hinweis, dass das Gerede vom wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands ziemlich übertrieben ist – und vor allem von Leuten betrieben wird, die Globalisierung zur Drohformel deformiert hatten, um plumpliberale Wirtschaftsinteressen zu pushen. Wer Kündigungsschutz abbauen oder Tarifverträge öffnen wollte, musste nur das Angstwort »Globalisierung« aussprechen – zack, durch. Ob zur Hochzeit der Standortdebatten Mitte der Neunzigerjahre oder in der Zeit der Agenda 2010.
Als 1997 Spekulanten aus den aufstrebenden Schwellenländern ebenso abrupt flüchteten, wie sie vorher ins Casino reingestürmt waren, galt das nach herrschender Lehre noch als die gerechte Antwort der Finanzmärkte auf unsolides Wirtschaften – obwohl längst klar wurde, dass die Eskalation nichts mehr von einer rationalen Reaktion hatte. Da wurde erstmals offenbar, wie viel Potenzial für Instabilität und Krisen diese marktliberale Finanzglobalisierung mit sich brachte. Die Krise schwappte von Asien bis Russland und Lateinamerika – panische Ansteckung. Ebenso wie danach beim Platzen der Dotcom-Blase 2000: erst die Euphorie, dann der Absturz. So wie später in der großen Finanzkrise ab 2007 – oder der Eurokrise ab 2010, als ein Land nach dem anderen in die Abwärtsspirale geriet und zappelige Finanzspinner am Ende selbst niederländische und österreichische Staatsanleihen abstießen.
Spätestens da wurde offenbar, dass es meist alles nur schlimmer macht, wenn in so einer Krise die Regierungen auch noch heillos Gelder kürzen oder Steuern anheben – nur um irgendwie nicht mehr Schulden zu machen. Wobei Deutschland selbst schon zuvor den Gegenbeleg geliefert hatte, weil 2005 der Aufschwung just in dem Moment begann, als endlich mal nicht mehr weiter gekürzt wurde. Kein Zufall.
Dass Deutschland danach in einen langen Boom startete, widerlegte ohnehin all diejenigen, die kurz davor noch geunkt hatten, dass der Superstar abstürze – und dies auch nur zu stoppen sei, wenn noch sehr viel mehr wirtschaftsliberale Reformen durchgezogen würden. Unter Markt-Ayatollahs galt die Schröder-Agenda vor dem Aufschwung bestenfalls als erster Schritt in die richtige Richtung – und erst danach plötzlich als Wunder-Agenda.