Die Deutschen laufen gerade nahezu ungebremst auf drei ungewöhnlich stressige Monate zu. Soll man, wenn es nächsten Mittwoch zu gelten beginnt, das Neun-Euro-Ticket ausnutzen, um zur Arbeit und dazu möglichst wöchentlich noch dreimal mit dem Regionalexpress zu Tante Erna zu fahren, wo man seit sieben Jahren nicht war? Was man da sparen kann – also verglichen damit, was es sonst kosten würde! Oder besser volltanken und Spritztouren machen – weil ab Mittwoch auch der Tankrabatt das Benzin billiger werden lässt? Schnäppchen-Dilemma.
Wahrscheinlich werden ohnehin die Autobahnen verstopft sein. Irgendwelche Ratgeber haben schon geraten, eher vor Dienstag noch mal (teuer) zu tanken. Weil am Mittwoch wahrscheinlich so viel Leute tanken wollen, dass das ganze Land in der Tankschlange zu stehen droht. Oder am Bahnschalter. Da komme wochenlanges Chaos aufs Land zu, heißt es. So viel, dass die Leute vom Bahnfahrgastverband zum Katastrophenschutz schon vorgeschlagen haben, präventiv die Mitnahme von Fahrrädern in den Bahnen zu verbieten.
Wobei, natürlich, sowohl Tankrabatt als auch Neun-Euro-Ticket klimapolitisch ohnehin Blödsinn seien, sagen Experten und Expertinnen. Ist seit Wochen zu lesen. Weil der Tankrabatt der Klimarettung zuwiderlaufe. Und das Geld für die Subventionierung des Neun-Euro-Tickets »besser zum Ausbau der Bahn« genutzt worden wäre. Alles irgendwie doof.
Nun wollen wir nicht sagen, dass alles großartig ist, was die Regierung sich da so ausgedacht hat. Ein bisschen bizarr wirkt aber dann doch, was alles an den schönen Versuchen so furchtbar sein soll, den Leuten angesichts drastischer Putin-bedingter Kaufkraftverluste ein bisschen Geld zurückzugeben, bevor diese Versuche überhaupt in Kraft getreten sind. Kleiner Faktencheck zum Start in den deutschen Chaossommer:
Kann natürlich sein, dass im Sommer die regionalen Bahnen noch voller sind als manche Bahnen schon jetzt. Blöd für die, die jeden Tag zur Arbeit müssen. Spricht nur auch wieder einiges dafür, dass es so dramatisch nicht wird: weil Ferien und viele weg sind. Und weil sich das dann auch regelt. Und selbst wenn: Geht ja auch darum, in dramatischen Zeiten entsprechend beeindruckende Gegenmittel einzusetzen.
Womit wir bei der berechtigten Frage nach Sinn und Zweck sind. Nach dem guten Motto: Was Sinn ergibt, darf auch ein bisschen Chaos mit sich bringen. Klar wirkt es klimapolitisch auf den ersten Blick eher widersinnig, die Benzinpreise via Tankrabatt zu senken – weil das den Anreiz per se reduziert, weniger zu tanken und auf andere Fortbewegungsmittel zu setzen. Absurd ist nur die Annahme, dass das jede Verteuerung gleich zur willkommenen Wendeleistung werden lässt.
Wenn die Leute binnen kurzer Zeit kriegs- und spekulationsbedingt mit so dramatisch höheren Spritpreisen konfrontiert sind, werden Elektroautos dadurch nicht auf Anhieb für alle erschwinglich – und gibt es deshalb nicht plötzlich überall jene Ladesäulen, die nötig wären, um ein massenhaftes Umschwenken auf Elektroautos überhaupt möglich zu machen. So viele Kilometer können die meisten auf Anhieb auch gar nicht weniger fahren, damit sie den Kaufkraftentzug darüber ausgleichen.
Oder um es anders zu sagen: Es bringt bei allen Vorzügen steigender Kosten für klimaschädliche Ausgaben nichts, die Leute deshalb gleich in Armut zu stürzen. Besser sollte man dafür sorgen, dass die Preise auf CO₂ stetig steigen – und im Zweifel so drastische Ausreißer wie jetzt auch mal über einen Tankrabatt auffangen.
Natürlich braucht es zur Verkehrswende viel Geld, das in bessere Bahninfrastruktur gesteckt wird. Da ist definitiv mehr drin. Nur ist es Blödsinn, das gegeneinander aufzurechnen. In die Infrastruktur zu investieren, wird sich über Jahre ziehen. Jetzt geht es um etwas anderes: dass Leute trotz Energiepreisexplosion noch von A nach B kommen, ohne arm zu werden. Zur Wende gehören zudem auch Leute, die womöglich erst mal ausprobieren müssen, wie angenehm Bahnfahren sein kann – ein Gedanke, der für Leute widersinnig wirken mag, die in Berlin an allen Ecken U-Bahn-Stationen haben.
Wozu noch ein anderer ökonomisch höchst relevanter Effekt kommt: Sowohl Tankrabatt als auch Neun-Euro-Ticket werden die ausgewiesene Inflation spürbar geringer ausfallen lassen als dies sonst der Fall wäre. Was wiederum nicht ganz unwichtig ist in einer Zeit, in der die größte Sorge der Währungshüter ist, dass hohe Inflationsraten über die Erwartungswirkung sich verselbstständigen. Da wirken solche unmittelbaren Beiträge zur Preissenkung sehr viel gezielter als die allseits geforderte Schrotflintenmethode steigender Leitzinsen – die alle Investitionen im Land zu verteuern drohen, auch die wichtigen.
Wenn all das stimmt, wirkt das Genöle dieser Tage schon reichlich bizarr. Wobei noch nicht eingerechnet ist, dass es auch um etwas anderes geht: mit ganz realen, wenn auch (na, und!) populären Maßnahmen dem Unmut zu begegnen, der sich im Land über Politiker, Inflationsschocks und die Verhältnisse überhaupt in den Jahren so aufgestaut hat. Es spricht ja viel dafür, dass das mehr als ein bisschen Unwohlsein spiegelt – eher eine tiefe Vertrauenskrise samt ebenso tief sitzendem Argwohn darüber, dass die (nicht so privilegierten) Leute im Land doch ziemlich oft allein gelassen werden.
Glaubt man den Auguren, haben Olaf Scholz und seine Mitregierenden auch deshalb bei den jüngsten Landtagswahlen so mäßig abgeschnitten, weil sie zu wenig bemerkt haben, wie dramatisch der Inflationsschock auf die Menschen wirkt. Wenn das stimmt, spricht viel dafür, dass sowohl Tankrabatt als auch Neun-Euro-Ticket alles andere als Blödsinn sind – gerade weil sie jeder und jede im Land unmittelbar spüren kann. Was nicht heißt, dass das im Detail besser hätte angelegt werden können. Oder dass nicht in Sachen Tanken bei künftig drastisch fallenden Ölpreisen im Sinne der Klimarettung auch mal Untergrenzen gezogen werden sollten.
Dann bräuchte es davon eher mehr als weniger.
Wer weiß, vielleicht sorgt das Neun-Euro-Ticket über den Sommer ja für ein bisschen Bahn-Hype, der nachwirkt. Und vielleicht wirkt auch der Tankrabatt gar nicht so furchtbar, sondern hilft einfach dem einen oder der anderen, am Ende des Monats, wieder eine schwarze Null zu sehen. In die Klimarettung ist ohnehin noch viel mehr an noch viel mehr Stellen zu investieren.
Sommermärchen statt Sommerchaos. Warum nicht?