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Thomas Fricke: Wer der EZB die Schuld an der Inflation gibt, spielt Putins perfides Spiel mit

24. September 2022

Die Kritik an der Europäischen Zentralbank nimmt fahrlässig-tumbe Züge an. Das schadet der Glaubwürdigkeit der Notenbanker dauerhaft – und hilft vor allem einem.

Richtig: Was die Menschen gerade an Teuerung erleben, ist schwer erträglich. Richtig auch: Eine Inflation von absehbar zehn Prozent ist weit von dem entfernt, was Europas Zentralbanker als Hüter möglichst stabiler Preise mit sachten zwei Prozent anstreben wollten. Ein Drama, klar.

Nur: Was die Währungshüter mittlerweile an Bashing mitbekommen, hat etwas zunehmend Gefährliches. Da wird den Notenbankern eine Verantwortung an der Teuerung zugeschrieben, die sie ganz offenbar gar nicht haben. Das wiederum lenkt davon ab, wie sehr Wladimir Putin die Energiepreisexplosion angetrieben hat – und es droht dem Vertrauen der Menschen in Notenbank und Währung mittlerweile mehr zu schaden als all die angeblich so unerhörten Fehlprognosen der Experten der Europäischen Zentralbank (EZB).

Kein Argument zu blöde

Um eins vorwegzunehmen: Europas Zentralbanker sind alles andere als Götter – und sie sind fehlbar. Nur was sich da gerade an eilfertiger Kritik verselbstständigt hat und von Hinz und Kunz nachgeplappert wird, ähnelt eher einem tumben Shitstorm. Dabei sind die antreibenden Kritiker teils alte Gesinnungseiferer, die den Euro schon immer schlimm oder Südeuropäer schludrig fanden (oder beides), teils Interessierte wie die Bankenvertreter, die Europas Notenbanker schon deshalb zu höheren Zinsen treiben, weil sie daran verdienen.

Kein Argument scheint da zu blöde. Da hat die Euro-Notenbank die Inflation gegen angeblich alle klaren Signale und endlos vielen weisen Stimmen nicht kommen sehen. Da muss sie jetzt angeblich umso schlimmer die Zinsen anheben – und dadurch die Konjunktur gefährden, nur weil sie nicht früher reagiert habe. Christine Lagarde sei einfach schuld, wenn wir jetzt so viel Inflation haben. Und der Chef des kuriosen Verbands der Familienunternehmen würde Lagarde wohl am liebsten absetzen lassen – weil sie nicht die richtige Politik machen will. So verdreht muss man sein (es war Deutschlands größter Wunsch, dass Notenbanker nie abgesetzt werden dürfen; das kann man dann nicht plötzlich wollen, weil die Person gerade nicht ins eigene Weltbild passt).

Die EZB für fast zehn Prozent Inflation verantwortlich zu machen, statt die Teuerung vor allem als Folge des Kriegstreibens einzustufen, ist analytisch zumindest originell. Da hilft auch der Hinweis darauf nicht, dass die Preise schon vor Kriegsbeginn im Februar 2022 angezogen sind. Das Kriegstreiben begann ja auch schon im Frühjahr 2021, als Putin Truppen an der Grenze zur Ukraine aufstellte – und die Lage begann sich hochzuschaukeln, als er dort Ende 2021 die ersten Manöver abhalten ließ. Das versetzte jedes Mal die Märkte in Panik und ließ Öl- wie Gaspreise schon allein aus Angst vor einem Krieg immer weiter hochschnellen – lange bevor Putin angriff.

Die Gaspreise haben sich schon zwischen April und Herbst 2021 verdoppelt. Und die Rohölnotierungen schossen ebenfalls hoch, vorigen Herbst bereits Richtung 100-Dollar-Marke. Zufall? Zeitgleich schnellten auch für Deutschlands Verbraucher die Energiepreise hoch – von April bis Dezember allein um gut acht Prozent –, dann allmählich auch die Preise aller Waren, für deren Erzeugung viel Energie nötig ist. Ende 2021 erreichte die Gesamtinflation mehr als fünf Prozent (damals noch durch die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer verstärkt).

Man muss ein kurioses Verständnis von Ursache-Wirkungs-Logik haben, um das zeitgleiche Hochschnellen nicht ganz wesentlich Putins Säbelrasseln zuzuschreiben – sowie den zeitgleich akut gewordenen coronabedingten Engpässen in vielen Lieferketten weltweit. Auch wenn die Teuerung mittlerweile natürlich auch in vielen anderen Bereichen angekommen ist, weil viele Anbieter ihre höheren Kosten auf die Abnehmer abzuwälzen versuchen.

Es ist schwer zu sagen, was passiert wäre, wenn sich das Kriegstreiben aufgelöst hätte. Und wie schnell die Inflation dann wieder nachgelassen hätte. Müßig: Da kein Prognostiker Ende 2021 mit dem Krieg fest rechnete, war’s da noch gang und gäbe, bald wieder weniger Inflation zu erwarten. Nicht nur bei der EZB. Wenn jetzt Kritiker mit viel Aufregung über die Notenbanker schimpfen, ist das, sagen wir es vorsichtig, nicht ganz redlich. Der deutsche Sachverständigenrat, dessen für Geldpolitik zuständiges Mitglied damals schon eifrig beim EZB-Bashing mitmachte, hat die Inflation ebenfalls nicht ansatzweise so vorhergesagt. Die vermeintlich so achtsame Bundesbank  rechnete selbst Ende 2021 für dieses Jahr noch mit lediglich 3,6 Prozent –nicht ansatzweise mit fast zehn; nächstes Jahr sollte die Rate dann schon wieder bei zwei liegen. Kollektivversagen.

Als hätte da die EZB kommen sehen müssen, was durch den Krieg an dramatischen Energie- und Lebensmittelkrisen ausgelöst worden ist, wenn das kein anderer hat kommen sehen. (Falls jemand die aktuellen Gaspreise vorhergesehen hat, bitte melden – dann korrigieren wir die Passage!).

Entsprechend gewagt ist auch die Küchenökonomen-These, dass die EZB bei früherer Reaktion jetzt nicht so schlimm hätte eingreifen müssen – und es jetzt nicht so wirtschaftlich schmerzhaft würde. Das ist gaga. Höhere Zinsen hätten an den kriegsbedingten Energiepreisschocks wenig bis nichts geändert. Wir hätten trotzdem heute die Krise, nur wegen der höheren Zinsen vielleicht sogar noch schlimmer. Dass die Inflation bei uns heute nicht niedriger wäre, lässt die Erfahrung der Briten vermuten. Die Bank of England hat die Zinsen ja tatsächlich viel früher angehoben hat. Nur dass die Inflation auf der Insel heute nicht geringer, sondern sogar höher ist als bei uns – und die wirtschaftlichen Folgen nicht milder.

Unverantwortlich fahrlässig

Wenn sich die Sorge vor anhaltender Inflation derzeit festsetzt, dann zu einem Gutteil deshalb, weil täglich von den bereits einsetzenden oder nahenden Schocks zu lesen und zu hören ist, die Deutschlands Verbraucher über die Gasabrechnung ereilen. Oder weil Benzin so viel kostet. Weil Energiepreise mittlerweile atemberaubende Ausschläge gemacht haben, wir vor einem kritischen Winter stehen – und der russische Präsident es seit Monaten gekonnt versteht, für neue Panikschübe und Preisrekorde an den Gasmärkten zu sorgen. Nicht weil die EZB irgendwas getan oder nicht getan hat.

Seit die Gaspreise diesen Sommer eskaliert sind, bewegt sich die Wirtschaft Richtung Rezession. Mitte August reichte Putins Andeutung, Nord Stream I für ein paar Tage zwecks, klar, Wartung zu schließen, um die Kurse für Gas von 200 auf fast 250 Euro je Megawattstunde hochschießen zu lassen. Inflation als Mittel des Kriegs.

Wenn der Befund stimmt – und die EZB schlimmstenfalls einen kleineren Teil der Inflation zu verantworten hat – hat das eilfertige Lagarde-Bashing etwas unverantwortlich Fahrlässiges. Dann wird die Währungsbehörde gerade dazu getrieben, mit irren Zinsanhebungen gegen eine Inflation anzugehen, die gar nicht durch mangelnde Zinsen gekommen ist. Das droht unnötig Schaden anzurichten, da verschärfte Kreditbedingungen die ohnehin schon einsetzende Rezession noch verschlimmern – ohne die Ursachen der Energiekrise zu beheben.

Das Tragische daran ist, dass hier der eigentliche Schaden für die Glaubwürdigkeit der Währungshüter zu entstehen droht – einer, der auf Dauer viel mehr schaden könnte als eine Zinsanhebung mehr oder weniger. Auch weil die EZB von der eiligen Schar ihrer Kritiker gerade zum Übel stilisiert wird. Da droht sich eine wackelige Diagnose in der öffentlichen Wahrnehmung zu verselbstständigen. Und weil die Währungshüter zu allem Unglück bald auch noch als Mitverantwortliche für die verschärfte Rezession gescholten werden könnten. Gut möglich, dass Putin jenseits aller militärischer Desaster gerade furchtbar zufrieden ist, wie der Westen sich selbst schwächt.

Wer den Menschen heute ohne Not und wirklich überzeugende Argumente einredet, dass die Euro-Notenbank an zehn Prozent Inflation maßgeblich schuld ist, spielt nicht nur Putins perfides Spiel mit – er weckt auch falsche Erwartungen darüber, was die EZB gegen eine kriegsbedingte Krise wirklich tun kann. Das ist nicht nur hier und heute gefährlich. Es droht das Vertrauen in die Währungshüter weit über die aktuelle Inflations- und Kriegszeit zu beschädigen – und damit genau das zu tun, was die Kritiker dieser vorhalten.

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