Noch sind es nur zarte Signale. Die Unternehmen geben sich nach Umfrage des ifo-Instituts im November weniger skeptisch, was die nächsten Monate angeht. Und die Inflation liegt nicht mehr über, sondern nur noch bei zehn Prozent. Immer noch hoch, klar. Trotzdem könnte dahinter schon mehr Positives stecken – wenn es nicht kriegsbedingt zu neuen Schocks auf den Energiemärkten kommt.
Wie kann das sein? Wo uns Ökonomen seit Wochen zu erklären versuchen, dass die Inflation erst weggehen wird, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Zinsen noch viel stärker angehoben hat, um damit die Nachfrage zu dämpfen – und die Rezession (leider) zu verschärfen? Jetzt sinkt die Inflation – und die Rezession scheint nicht so schlimm zu werden wie zwischenzeitlich zu befürchten war.
Ein Wunder? Oder erzählen die Gelehrten eher Quatsch? Nicht ganz auszuschließen.
Wenn Ökonomen zu Ökonomen werden, bekommen sie im Studium seit Jahrzehnten beigebracht, dass die Welt eigentlich einfach ist. Wobei zu den einfachen Dingen gehört, wie man Inflation bekämpft: Da muss die Notenbank halt die Zinsen erhöhen, wodurch Leute weniger Kredite aufnehmen und mehr sparen, statt Geld auszugeben, es also weniger Nachfrage und im Zweifel nun mal (leider) eine Rezession gibt. Das bremst die Möglichkeiten der Firmen, ihre Preise anheben zu können – und lässt sich bestenfalls abmildern, sagen die Ökonomen, wenn die Leute schon bei Ankündigung höherer Zinsen aufatmen, dass ja jetzt bald die Inflation weg ist. Erwartung mit Selbsterfüllung. Zack, ist die Inflation weg.
Nun räumen besagte Gelehrte durchaus ein, dass das vor allem für den Fall gedacht ist, wenn die Inflation wegen überhitzter Konjunktur steigt – weshalb eine Dämpfung der Wirtschaft selbstredend gut ist. Die Inflation bei uns ist aktuell aber weit überwiegend dadurch entstanden, dass es nach der Coronakrise viele Lieferengpässe und seit Beginn des Kriegsgerassels krass steigende Gas- und Öl- und Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten gab – was mit überhitzter Konjunktur in Europa wenig zu tun hat, weil die Konjunktur gar nicht überhitzt, besagte Ökonomen aber nicht beirrt: Die Zinsen müssten halt trotzdem steigen. Weil die Inflation, egal woher sie kommt, nur über Nachfrage-Rezession zu bremsen ist. Wie man das halt im Studium so gelernt hat.
Bei aller Achtung: Das klingt gemessen am Problem in Wirklichkeit atemberaubend unterkomplex. Immer nur die Notenbank? Immer nur die Zinsen? Immer nur eine Rezession?
Womit wir im Hier und Jetzt sind. Wenn die Inflation schon wieder (etwas) nachlässt, kann das mit der EZB und ihren Zinsen wenig zu tun haben – weil die nach Urteil ihrer Kritiker ja noch lange nicht weit genug gestiegen sind, höhere Zinsen nach aller Erfahrung erst nach etlichen Quartalen wirken und zunächst einmal die Konjunktur oder die Inflationserwartungen einbrechen müssten.
Wenn wie jetzt Benzin an den Tankstellen plötzlich wieder billiger wird und auch die Preise für Gas stark gefallen sind, hat das mit den Zinsen bestenfalls mittelbar zu tun, weil die Zinsankündigungen der Notenbanken vielleicht dazu beigetragen haben, an den Finanzmärkten die Angst vor einer Rezession zu verstärken – was Händler auf niedrigere Nachfrage nach Öl und Gas spekulieren lässt. Kann sein.
Mindestens ebenso sehr dürfte aber eine Rolle spielen, dass etwa die Regierungen (nicht die Notenbanker) ziemlich erfolgreich dabei waren, die Gasreserven aufzufüllen. Oder der Krieg in der Ukraine nicht eskaliert ist (wofür die Notenbanker leider ebenso wenig können). Oder sich die Lieferengpässe auf den Weltmärkten abschwächen – was schlicht mit dem Auflösen von Staus zu tun hat, die es nach den Corona-Lockdowns gab.
All das zusammen erklärt, warum entgegen den Prophezeiungen eben jetzt beides zusammenfällt: Die Inflation lässt nach – und zugleich dürfte die Rezession weniger dramatisch ausfallen. Niedrigere Öl- und Gaspreise sowie schwindende Engpässe bei den Lieferungen wirken nun mal ebenso dämpfend auf die Teuerung wie belebend für die Konjunktur. Kein Wunder.
Wenn die Inflation schon in den nächsten Wochen weiter nachlässt, wird auch das erst mal wenig mit den höheren Zinsen zu tun haben. Sondern damit, dass die Kurse an Öl- und Gasmärkten weiter fallen. Und damit, dass in Deutschland die Bundesregierung im Dezember die Gasrechnung übernimmt sowie mit Wirkung Januar eine Strompreis- und eine Gaspreisbremse einführt. Beides zusammen wird die Inflation nach gängigen Schätzungen um locker drei Prozentpunkte niedriger ausfallen lassen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Da müsste sonst viel Rezession kommen, um das zu erreichen.
Hätte die Bundesregierung die Preisbremsen schon im Sommer vorbereitet, wie es manche vorgeschlagen hatten – und dazu an Tankrabatt und 9-Euro-Ticket noch etwas länger festgehalten (bis Öl- und Benzinpreise nach dem Wahn vom Sommer wieder fielen) – das naheliegende Ergebnis lässt sich leicht ausrechnen: Dann wäre die Inflation bei uns gar nicht auf zehn Prozent gestiegen. Ein nennenswerter Unterschied.
All das heißt nicht, dass Zinsen bei Inflation nicht angehoben werden sollten. Es heißt nur, dass es viel zu teuer und ineffizient ist, jedwede Teuerung wie reflexhaft nur über die Notenbank und höhere Zinsen dämpfen zu wollen. Schon, weil das enorm viele Kollateralschäden mit sich bringt; die Zinsen dämpfen alle Investitionen, auch die, die wir gerade dringend etwa im Kampf gegen die Klimakrise brauchen. Und auch, weil es eben besser sein kann, unter Mitwirkung von Regierungen eigentliche Ursachen (wie einen Mangel an Gas oder ein Übermaß an Spekulation) zu beheben.
Das alles passt dann allerdings nicht mehr in die hübsch einfachen Modelle, die Ökonomen gelehrt bekommen. Es kann sogar sein, dass hohe Zinsen die Inflation noch verstärken: wenn die Verteuerung der Kredite wie derzeit in den USA oder bei uns dazu führt, dass plötzlich weniger neue Wohnungen gebaut werden – obwohl etliche Leute ja unverändert dringend nach Wohnungen suchen. Was den Druck steigender Mieten dann eher noch zu verstärken droht. Perverser Effekt.
Was für diese Wochen gilt, könnte bald noch wichtiger werden. Nach gängigen Prophezeiungen drohen Klimapolitik und Demografie die Inflation mittelfristig zu verstärken. Wenn das so ist, stellt sich die Frage, ob dagegen dann wie immer höhere Zinsen helfen – wenn etwa höhere CO₂-Preise politisch gewünscht sind, um die Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft zu beschleunigen. Und ob es gut ist, die Konjunktur über höhere Zinsen zu dämpfen, wenn das Problem darin liegt, dass es demografisch bedingt zu wenig Fachkräfte gibt und dies Löhne und Inflation antreibt. Dann wäre es ein guter Rat, mehr Leute zu qualifizieren oder anzuwerben – damit es erst gar nicht dazu kommt. Und im Zweifel vorübergehend ein, zwei Zehntel mehr Teuerung hinzunehmen, wenn das hilft, größere Klimakatastrophen zu verhindern – zumal in einer klimaneutralen Wirtschaft vieles dann ohnehin wieder billiger wird. Alles nichts für Notenbanken. Das müssen dann schon andere machen.
Ob in Pandemie- und Kriegszeiten – oder vor Herausforderungen wie dem Klimawandel: Es hat etwas Absurdes, wie benommen an einem grotesk reduzierten Modell aus Schönwetterzeiten festzuhalten, in dem die Notenbank ordentlich und allein für stabile Preise zuständig ist. Und in dem die Inflation nur sinkt, wenn es höhere Zinsen und dadurch eine schöne Rezession gibt. Das geht auch anders. Höchste Zeit für ein Update.