Bald ist es zwanzig Jahre her, dass Gerhard Schröder zu jener Reformwelle aufrief, die dann später als Agenda 2010 bekannt wurde. Und wenn es etwas gab, was die folgenden Reformen spirituell einte, dann die Devise, dass den Menschen endlich wieder mehr Druck gemacht werden müsse zu arbeiten – dass Löhne einfach auch sinken müssen, es nur gegen Auflagen und Sanktionsdruck Hilfe vom Staat gibt und sich Deutschland wegen der Globalisierung überhaupt nicht mehr so viele Sozialleistungen leisten kann.
Weil der Mensch sonst nur faul wird. Und die Wirtschaft so niedergeht. Und nach Polen, China oder Vietnam flieht, wo die Menschen so viel genügsamer sind – und der Staat nicht so viel Steuergeld für Soziales ausgibt.
Knapp zwanzig Jahre später werden im Land Mindestlöhne erhöht und Sozialleistungen erweitert – und es geht darum, ein Bürgergeld einzuführen und Sanktionen abzuschaffen. Und jedes Mal schwingt aus alter Zeit noch Protest mit, dass all das doch gegen das verstößt, was einst die Agenda ausmachte. Dass der Mensch doch Druck brauche. Und die Sozis jetzt stattdessen Geld verteilen, um verzweifelt verlorene Wähler wiederzugewinnen. Was ja keinen Wohlstand schaffe. Heißt es.
Dabei spricht eine Menge mittlerweile dafür, dass der größere Fehler im damals verbreiteten Verständnis davon liegt, wie Menschen funktionieren. Und dass Druck und Billiglöhne gar nicht unbedingt den Wohlstand steigern. Forscherwandel.
Das Bild vom Homo Hängematte hat ausgedient
Zu Hochzeiten schien der Befund vom verbreiteten Homo Hängematte selbst unter führenden Ökonomen im Land die ultimative Lehre. Da galt als ausgemacht, dass Arbeitslosigkeit vor allem daher kommt, dass die Leute zu wenig »Anreiz« haben – und die Unternehmen die Löhne (für vermeintlich weniger produktive Arbeit) nicht senken können. Dass der Mensch halt so funktioniert. Und zu viel soziale Leistungen ohnehin nur dazu führen, dass zur Finanzierung die Steuern steigen – was wiederum der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft schadet und so die Leistungsfähigkeit schwächt. Wohlstand durch Verzicht. Weil der Mensch keine andere Sprache versteht.
All das mag im Land nach wie vor gewisse Popularität haben, wie der reflexhafte Widerstand von Friedrich Merz gegen das Bürgergeld vermuten lässt. Der Haken ist nur, dass die modernere Forschung das einst gepflegte Agenda-Verständnis von Mensch, Firma und Leistung zunehmend surreal wirken lässt.
Beispiel Mindestlohn: Noch zur Einführung 2015 verbreiteten tonangebende dominierende Ökonomen etliche Horrorprognosen – weil es nach alter Lehre verheerend wirken musste, die Löhne für Geringbezahlte zu erhöhen. In Wahrheit passierte: nichts davon. Was die neuere Forschung schon damals hätte ahnen lassen können: Weil Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt gegenüber ihren Arbeitgebern doch oft in der schwächeren Position sind, nutzten etliche Firmen den Abbau von Sicherung lange Zeit aus, um exzessiv oft Löhne zu drücken. Mit dem Ergebnis, dass in Deutschland bald ein so beeindruckender Teil der Beschäftigten zu Billiglöhnen arbeitete wie sonst kaum irgendwo.
Heute gilt in der Arbeitsmarktforschung als neuer Standard, dass angesichts ungleicher Kräfteverhältnisse dringend wieder Grenzen zu setzen sind; in der Folge wurden fast überall Mindestlöhne eingeführt oder stark angehoben. Ob in den USA, Großbritannien oder bei uns. Vergangenes Jahr gab es sogar den Nobelpreis für Arbeiten dazu, dass Mindestlöhne nötig sind. Und alles andere nicht nur gesellschaftlich, sondern auch ökonomisch nicht effizient ist. Die Firmen können in aller Regel sehr wohl mehr als den Billiglohn zahlen – und die Praxis zeigt, dass das sogar zu höherer Produktivität führt.
Ähnliche Wendung: Bei der Frage, wie viel Druck es braucht, um Arbeitslose in Arbeit zu bringen – wenn nach etlichen Hartz-IV-Jahren und angedrohten Sanktionen am Ende doch immer noch eine Million Menschen im Land mehr als ein Jahr arbeitslos sind. Wie Auswertungen gezeigt haben, hilft halt auch kein Nötigen, wenn die Leute einfach zu lang schon aus dem Beruf sind – oder in Umständen leben, die regelmäßige Arbeit auf Anhieb gar nicht möglich machen.
Eine gerade veröffentlichte Studie scheint auf eindrucksvolle Art auch den bereits länger schwelenden Verdacht zu bestätigen, dass die meisten Menschen ganz gern arbeiten – und gar nicht in der Hängematte liegen wollen. Schon weil Arbeit mehr als nur Geldverdienen ist. Und der Mensch so Dinge wie Bestätigung und Anerkennung und Erfüllung braucht. Kein Esoterik-Quatsch.
In der Studie werteten die beiden Oxford-Ökonomen Maximilian Kasy und Lukas Lehner ein Experiment aus, bei dem in der österreichischen Stadt Marienthal seit Herbst 2020 allen eine besser bezahlte private oder öffentliche Arbeit garantiert wurde, die seit mehr als zwölf Monaten arbeitslos waren – und die sie annehmen konnten oder nicht. Bedingungslos und ohne Sanktionen. Dafür mit Hilfestellung. Das Ergebnis: Zwei Jahre später gibt es so gut wie keine Langzeitarbeitslosen mehr in der Stadt, so die beiden Forscher. Mehr noch: Die Betreffenden zeigten sich schon vor Aufnahme der Arbeit zufriedener und äußerten, wieder das Gefühl der Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben. Nach alt-orthodoxem Hängematten-Verständnis gar nicht vorstellbar. Was nicht heißt, dass es gar keine Menschen gibt, die Sozialleistungen nehmen, statt zu arbeiten. Nur scheint das gar nicht so in der Natur des Menschen zu liegen.
Was für die Funktionsweise der Leute im Einzelnen gilt, scheint auch für das große Ganze zu gelten. Wie der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Holger Görg, in einer ebenso eindrucksvollen Studie zusammen mit drei Co-Autoren herausfand, ist auch eine andere in den Agenda-Jahren dominierende These eher Unsinn: wonach es im internationalen Wettbewerb schlecht ist, einen (zu) großen Sozialstaat zu haben. Die Forscher verglichen systematisch, wie internationale Konzerne in Ländern agierten, die viel für ihren Wohlfahrtsstaat ausgeben – mit dem Verhalten dort, wo die Menschen eher wenig Absicherung bekommen. Und siehe da: Tendenziell gehen die Investitionen eindeutig dahin, wo es einen größeren Sozialstaat gibt – anders als es die konventionelle Lehre vermuten ließ, so Görg.
Vorteil soziale Absicherung auch für die Wirtschaft
Aus Deutschland, einem Land mit relativ viel Sozialbudget, hat in den vergangenen Jahren nur ein relativ kleiner Teil der Firmen größere Teile der Produktion verlagert. Umgekehrtes gilt etwa für Großbritannien.
Wenn Firmen Standorte aufbauen oder verlagern, geht es eben nur sehr bedingt um Kosten – und auch nur nachrangig um die Höhe der Steuern, die in der Regel in Ländern mit ausgebautem Sozialstaat höher sind. Entscheidend scheine für die Konzerne eine ganze Reihe anderer Bedingungen, die in Ländern mit hoher Absicherung für die Menschen eher erfüllt sind als anderswo: etwa, dass die Arbeitskräfte nicht unnötig Zeit und Mittel aufwenden müssen, um selbst für Krankheit, Rente oder Arbeitslosigkeit vorzusorgen; oder dass Arbeitskräfte in sicherem Umfeld auch treuer ihren Arbeitgebern gegenüber sind, was letzteren viel Ärger und Aufwand erspart.
Auch dazu gibt es neuere Studien . Der Aufwand, eine Stelle neu zu besetzen, werde eher unterschätzt, so der Arbeitsmarktökonom Simon Jäger, seit Kurzem Chef des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA). Ein ausgeprägter Wohlfahrtsstaat ermögliche es Firmen, in einem stabilen Umfeld zu arbeiten, schreiben Görg und seine Kollegen.
All das spricht nicht dagegen, dass es auch ökonomische Anreize geben sollte – und Druck dem Menschen gelegentlich mal guttut. Das via Agenda 2010 zum Mantra gemacht zu haben, wirkt heute nur zunehmend absurd und fahrlässig. Es mag kurzfristig den einen oder anderen Job gerettet, nur auf Dauer relativ wenig Wohlstand geschaffen zu haben – und es hat Deutschland eine Art wirtschaftliches Ramsch-Modell eingebrockt, aus dem das Land jetzt wieder heraus muss.
Höchste Zeit für eine Modernisierung des Leitmotivs – statt für Gezeter über Mindestlöhne, unzureichende Sanktionen oder Bürgergeld.