Europas Währungshüter wirken gerade wie Streber in der Schule, die auf den Verdacht ungenügender Leistung mit ganz außergewöhnlichem Eifer überkompensierend reagieren. Nur dass das in der Schule höchstens die Mitschüler nervt – im Falle der Zentralbanker aber zum existenziellen Drama für eine Menge Menschen zu werden droht.
Deshalb wäre es gut, die Europäische Zentralbank würde die Zinsen entgegen gängiger Erwartung nicht unbedingt noch mehr anheben, als sie es am Donnerstag getan hat. Um nicht zu spät zu reagieren und unnötig Schaden anzurichten.
Das Phänomen reicht übers alte Europa hinaus. Noch nie haben in den vergangenen Jahrzehnten weltweit so viele Notenbanken in so kurzer Zeit so oft und so stark ihre Leitzinsen angehoben – nach Zählung der Experten von Deutsche Bank Research gab es in den vergangenen zwölf Monaten in 80 ausgewerteten Ländern weltweit mehr als 350 Zinsanhebungen. Was auf Anhieb durch die rekordschnell gestiegene Inflation gerechtfertigt scheint, ist bei näherem Hinsehen doch nicht so eindeutig.
Eine Reaktion der Verspotteten?
Schlimmer: Der Verdacht drängt sich auf, dass die vermeintlichen Götter stabiler Preise gerade auch jenen zweifelhaften Spott zu kontern versuchen, die jüngste Inflation nicht kommen gesehen zu haben – was sie jetzt durch möglichst brachial wirkende Beschlüsse wettzumachen versuchen.
Das allgemeine Hurra steht ja in argem Kontrast zur Tatsache, dass die Notenbanker die aktuelle Art von Inflation nur sehr bedingt überhaupt direkt beeinflussen können. Weil sie mit höheren Zinsen weder die Lieferengpässe auflösen können, die seit Corona Chip- und andere Preise haben hochschnellen lassen, noch die Ausschläge an Rohstoff- und Nahrungsmittelmärkten umkehren, die schon aus Angst vor dem Krieg 2021 einsetzten und sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verstärkten. Was das Gros der Inflationsschübe erklärt.
Diese Preisschübe mögen verstärkt worden sein, weil viele Leute dank Rettungspaketen und eigenen Sparbeständen aus Coronazeiten mehr Geld ausgeben konnten. Ebenso wie dadurch, dass es in manchen Branchen dreiste Firmen zu geben scheint, die das Inflationsambiente genutzt haben, um Verkaufspreise ordentlich anzuheben – selbst wenn die eigenen Kosten gar nicht so stark gestiegen sind, wie das Ifo-Institut gerade herausgefunden hat. Auch hier gilt nur, dass das keine Dauerphänomene sind, sondern vorübergehende.
Von großen Lohn-Preis-Spiralen, wie sie zeitweise befürchtet wurden, ist umgekehrt bisher nichts zu erkennen. Kein Grund also, jetzt mit immer neuen Panikzinsen zu reagieren.
Wie wenig höhere Zinsen derzeit helfen, lässt die Erfahrung der besonders eifrigen britischen Notenbank vermuten, die schon 2021 anfing, ihre Sätze anzuheben – ohne dass dies die Inflation auf der Insel seither stärker gedämpft hätte. Im Gegenteil: Die Teuerung lag im Herbst höher als in den meisten anderen Ländern. Dass sie nun seit einigen Wochen fällt, hat umgekehrt wenig mit den Zinsen zu tun. Die Inflation hat fast überall nachgelassen – auch in der Eurozone, wo die Notenbank angeblich viel zu spät reagiert hat.
Nicht wegen höherer Zinsen. Sondern weil Öl-, Gas- und andere Rohstoffpreise zeitweise kollabierten, Lieferengpässe sich auflösen – und die Regierung die Energierechnung gedeckelt hat. In Deutschland dürften die jetzt beschlossenen Strom- und Gaspreisbremsen zu einem Rückgang der Inflation um zwei Prozentpunkte führen.
Der zusätzliche Nutzen aus noch höheren Zinsen dürfte gemessen an alledem minimal sein, schreibt Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Mitautor eines Berichts, den gerade das Roosevelt Institute veröffentlicht hat. Die höheren Kreditkosten würden weder Chip-, noch Nahrungsmittelpreise senken. Dafür nimmt das Risiko negativer Nebenwirkungen zu.
Jede weitere Zinserhöhung drohe über eine Verteuerung von Krediten die Rezession unnötig zu verschärfen, so Holger Schmieding, Chefökonom der Berenberg Bank. Im Euroraum werde heute immer noch nicht wieder so viel Geld ausgegeben wie vor der Coronakrise. Die Konsumklimawerte liegen auf Rekordtief. In der deutschen Industrie ist die Kapazitätsauslastung nach Ifo-Umfragen mit knapp 85 Prozent weit entfernt von früheren Phasen der Überhitzung. Kein Anlass also, irgendeine Übersteigerung zu beheben.
Hohe Zinsen lassen die Mieten steigen
Wer jetzt Kredite verteuert, droht im Gegenteil auch solche Investitionen zu bremsen, die dringend nötig wären. Nach jüngsten Auswertungen horten die Unternehmen in Deutschland derzeit mit sage und schreibe fast 800 Milliarden Euro so viel Bargeld und Einlagen wie noch nie. Das ist angesichts der geopolitischen Unsicherheiten vielleicht verständlich, für die Zukunft des Landes aber ein Drama, schon wegen des dringenden Bedarfs, auf eine klimaneutrale Wirtschaft zu setzen – ob mit Elektroautofabriken oder Wasserstoff. Und es droht inflationär absurd zu enden: Je weniger in neue Kapazitäten investiert wird, desto eher kann es zu neuen (Liefer-)Engpässen kommen – eine der Ursachen des Inflationsschocks von 2021/22.
Mindestens so idiotisch: Die höheren Zinsen lassen bei uns gerade die Tätigkeit am Bau kollabieren – wo gerade alle einig waren, dass es zur Lösung des Wohnungsmangels und hoher Mieten nötig wäre, neuen Wohnraum zu schaffen. Wenn jetzt eher weniger Wohnungen angeboten werden, droht das zu noch höheren Mieten und Hauspreisen zu führen: also Inflation. Perverser Effekt. Das kommt von zu viel Zinsanhebungsmanie.
Wenn es nicht zu neuen Pandemie- oder Energieschocks kommt, spricht viel dafür, dass die Inflation in Kürze stark fallen wird. Nach den gerade veröffentlichten Prognosen der führenden Forschungsinstitute werden die Raten 2024 in Deutschland schon eher wieder bei zwei Prozent oder etwas darüber liegen. Wozu dann noch panisch Zinsen anheben?
Zumal wenn die Preistreiberei über andere Kanäle viel besser zu stoppen wäre, wie Stiglitz schreibt. Wer Mietinflation bremsen will, sollte Häuser bauen. Wer Engpässe in der Industrie beheben will, sollte Investitionen in Kapazitäten erleichtern. Und wer künftigem Fachkräftemangel entgegenwirken will, sollte Leute anwerben, ausbilden und besser bezahlen. Oder gegen exzessive Preisausschläge Bremsen einführen.
Statt zuzusehen, wie Notenbanker über noch höhere Zinsen unnötig Schaden anrichten. Weil sie sich vom Spott treiben lassen, eine Inflation nicht bemerkt zu haben, die selbst die Stabilitäts-Moralweltmeister der Deutschen Bundesbank nicht haben kommen sehen.