In plötzlichen Krisen zeigt sich, wie sehr unser Gehirn darauf aus ist, sich im Handumdrehen auf etwas einzustellen, was es vorher nicht erwartet hatte – und uns im Handumdrehen denken zu lassen, dass wir das ja vorher schon wussten. Selbst wenn das belegbar nicht der Fall war. Was evolutionär nützlich sein mag, weil es hilft, Gefahren abzuwenden, führt bei unvorhergesehenen Wirtschaftskrisen aber zu einem trügerisch kuriosen Phänomen: So gut wie alle wollen es schon immer gewusst haben.
Wozu das führt, hat sich im ablaufenden Jahr auf atemberaubende Art gezeigt, als es um die Rekordinflation ging. Selten dürften es so viele Experten und Halbexperten – im Nachhinein – gewusst haben, und flugs hatten sie auch die Schuldigen parat: die Notenbanker, die die Inflation einfach nicht hätten kommen sehen. Wobei das immer ein bisschen so klingt, als seien die Euro-Hüter wahlweise Volltrottel oder Bösewichte. Im Rückblick auf das, was selbst die größten Inflationspropheten noch Ende 2021 prognostizierten, wirkt das dann doch vermessen.
Mit Ablauf des Dezembers ermitteln die Statistiker eine tatsächliche Inflation für Deutschland, die nach vorläufiger Schätzung der Bundesbank 2022 bei durchschnittlich 8,5 Prozent gelegen hat. Das hat wer vorhergesagt?
Die Schar der Prognostiker, die das Sammelunternehmen Consensus Economics monatlich befragt, hielten zum vergangenen Jahreswechsel im Schnitt gerade mal 2,7 Prozent für möglich. Obwohl sich Ende 2021 schon die ersten Schübe an den Rohstoffmärkten bemerkbar gemacht hatten.
Rund 50 professionelle Prognosen – und nicht mal eine lag bei wenigstens vier Prozent
Zugegeben, es ist ein Schnitt. Gab es einzelne in der Herde, die es besser wussten? Die märchenhaften »Wirtschaftsweisen«, die damals noch einen der lautesten Polterer in ihren Reihen hatten? Nicht wirklich. Die Sachverständigen prophezeiten im November 2021 nicht einmal drei Prozent. Die Prognostiker vom Kieler Institut für Weltwirtschaft, die schon der Tradition halber immer vor Inflation warnen? Auch nicht. Ihre Vorhersage: 3,1 Prozent.
Dann sicher die Commerzbank mit Chefökonom Jörg Krämer, ein notorischer Dauerinflations-Prophet? Nö, auch nicht. Der Mann erwartete für 2022 ebenfalls nur 3,3 Prozent, nicht mal halb so hoch wie die Wirklichkeit also.
Kein Prognostiker 2022
Seit 20 Jahren werten wir an dieser Stelle im Dezember aus, wer die Wirtschaftsentwicklung des abgelaufenen Jahres für Deutschland am besten vorhergesagt hatte. Ein erstes Mal haben wir die Auswertung 2020 ausgesetzt, als die Pandemie alles veränderte. Jetzt setzen wir noch einmal aus.
Vor einem Jahr gingen die Prognostiker mit gutem Grund davon aus, dass 2022 stark durch Aufholeffekte nach der Pandemie geprägt sein würde – und die Inflation zwar steigt, aber nicht viel mehr. Der Ausbruch des Kriegs in der Ukraine Ende Februar hat die Grundlagen so drastisch verändert, dass die ursprünglichen Prognosen nicht mehr viel Sinn ergeben. Kein Prognostiker hat auch nur ansatzweise vorhersehen können, dass mit Krieg und Kostenexplosion das Wirtschaftswachstum am Ende bei weniger als zwei Prozent lag. Kein Prognostiker hat auch nur ansatzweise eine Inflation von zeitweise gut zehn Prozent erahnt (siehe dazu auch die Kolumne von dieser Woche).
Zwischen den Prognostikern eine Rangfolge und relative Treffergenauigkeit zu ermitteln, ist daher auch müßig. Wir dokumentieren stattdessen an dieser Stelle, welche Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und welche Inflation die wichtigsten Prognoseinstitutionen Ende 2021 vorhergesagt haben – und wie weit dies durchweg von der Wirklichkeit entfernt war.