Der Staat ist wieder gefragt. Mal, um Coronahilfen zu verteilen, mal um Geld für die Bundeswehr zu mobilisieren. Um Mindestlöhne zu erhöhen, Prämien für Elektroautos auszugeben und Klimapakete zu schnüren. Oder um Tankrabatte und 9-Euro-Tickets zu vergeben. Um kriselnde Energiefirmen zu verstaatlichen und Gaspreisbremsen einzuführen. Oder zu überlegen, was die Regierung tun kann, damit die Wirtschaft nicht so abhängig von China oder Russland ist.
Mit jedem Eingriff scheint aber das Gezeter größer zu werden – spätestens seit der Wirtschaftsminister das Jahr 2023 zum Jahr der (staatlichen) Industriepolitik erkoren hat. Und zumindest bei denen, für die eigentlich nur das richtig ist, was der Markt macht – und im Grunde immer falsch, wenn der Staat sich kümmert. So, wie das lange Zeit herrschende Lehre war. Marktliberales Dogma.
Ist der Ruf nach dem Staat wirklich nur ein irres Modephänomen wider den wirtschaftlichen Verstand? Ein gefährlicher Zeitgeist, der bald wieder weggeht? Weil es doch so viele Beispiele gebe, die zeigen, wie Regierungen Geld falsch ausgegeben haben? Und weil der Staat qua Annahme immer der schlechtere Unternehmer sei? Oder steckt mehr dahinter? Weil die Marktreligion gescheitert ist. Dann geht es in Wirklichkeit um etwas anderes.
Gute Gründe für den Staat
Natürlich gibt es immer wieder irre Beispiele, wo Behörden versagen. Und klar, der Staat gibt eine Menge Geld aus. Und Biontech hätte ohne private Geldgeber nicht so gut nach Impfstoff forschen können. Nur hat Biontech in der entscheidenden Phase auch enorm viel staatliche Hilfen bekommen, um schneller zu Potte zu kommen; und der Mitgründer des Unternehmens hat einst selbst gefordert, es müsse wie in den USA mehr gezielte staatliche Förderung von absehbar visionären Innovationen geben.
Deswegen gleich die Rückkehr des Kommunismus oder staatliche Gängelung zu wähnen, ist ein eher hilfloser Versuch, an alte Kalte-Kriegs-Zeiten anzuknüpfen. Es mag Gründe geben, Staatswirken zu kritisieren. Nur heißt das nicht, dass es nicht trotzdem guten Anlass gab, nach dem Staat zu rufen. Wenn die Feuerwehr bei den Löscharbeiten Mist baut, heißt das nicht, dass es nicht brennt.
Wenn der Staat so manches, sagen wir, nicht optimal hinkriegt, bedeutet das noch nicht, dass es ohne Staat besser ginge. Zumindest, wenn es um ein paar der größten Herausforderungen unserer Zeit geht. Hier liegt das eigentliche Problem.
Wenn Regierungen enorm viele Coronahilfen gewährt haben, dann deshalb, weil die freie Wirtschaft sonst im ersten Angstschock vor der Virenansteckung kollabiert wäre. Wenn es eine Gaspreisbremse oder Tankrabatte oder andere Energiehilfen gibt, dann deshalb, weil die Finanzakteure an den Rohstoffmärkten nach Kriegsausbruch in Panik gerieten – und die Energiepreise so hochschossen, dass es weder ökonomisch und sozial, noch klimapolitisch Sinn ergab. Und wenn es etwa in den USA jetzt ein Anti-Inflations-Gesetz vom Staat gibt, dann weil die Notenbanken allein kaum gegen die Inflation ankommen.
Was für die akuten Krisenhilfen gilt, das gilt auch für vieles, was uns noch droht. Wenn Regierungen Prämien für Elektroautos zahlen, dann nicht aus Spaß, sondern weil der viel beschworene freie Technologiewettbewerb unter den Konzernen eben doch nicht dazu geführt hat, dass sich etwas durchsetzt – weil die Wirtschaft bei so großen Infrastrukturentscheidungen eben doch mal Vorgaben der Regierung braucht. Das heißt nicht, dass sie deshalb nicht alles andere weiter frei (er-)wirtschaften kann. Die Prämien erst haben der Elektromobilität entscheidend Schub gegeben, womit der Markt wieder wirken kann. Ähnliches gilt schon jetzt in Sachen Wasserstoff.
Wenn es heute Mindestlöhne gibt, hat das nicht mit einer Mode zu tun, sondern damit, dass es mittlerweile einen Konsens unter Wissenschaftlern gibt, wonach der freie Wettbewerb am Arbeitsmarkt zu untragbar viel Billiglohnarbeit führt. Da muss der Staat eben eingreifen, um Schlimmeres zu verhindern.
Der Eifer anti-etatistischer Beißreflexe
Bei alledem gilt: Wenn der Markt offenbar nicht richtig funktioniert, hilft es nicht, wie sektenhaft die heilenden Kräfte desselben zu beschwören – und dem Staat abzusagen, weil der dies oder das nicht hinbekommen hat. Dann ist es höchste Zeit, alles daranzusetzen, dass der Staat mehr und besser funktioniert. Und besser zu definieren, wann genau der Staat intervenieren sollte – und wann es der Markt schon richtet, wie das bei vielem ja unstrittig der Fall ist und bleibt.
Dann ist das Problem eher, dass im Eifer anti-etatistischer Beißreflexe (Karen Horn) über Jahrzehnte so viel Personal abgebaut wurde, dass es heute Monate dauert, bis mal ein Reisepass erneuert oder ein Auto angemeldet ist. Und dass es vor lauter gekürzten Bezügen und Geschimpfe auf Staat und Beamte gerade für Hochtalentierte unattraktiv geworden ist, sich beim Staat zu bewerben. Und dass Ökonomen vor lauter Staatsallergie über lange Zeit gar nicht mehr darüber nachgedacht haben, was wirklich gut wäre. Da darf man sich nicht wundern, dass vieles nicht mehr funktioniert. Das spricht nicht per se gegen den Staat, sondern vor allem gegen die lange wirkenden Marktdogmen.
All das wird nicht besser durch den Ruf, staatliche Leistungen zu privatisieren oder an Privatfirmen auszulagern. Wozu das führt, ist heute täglich zu beobachten: wenn sich Billigkräfte bemühen, Sachen abzuarbeiten, für die sie nicht hinreichend ausgebildet und mangels Anbindung und Bezahlung auch nicht motiviert sind.
Wenn heute wieder mehr nach dem Staat gerufen wird, ist das weder ein unerklärliches Modeding, noch ein allein deutsches Phänomen. Es gibt mittlerweile Dutzende Top-Wissenschaftler, die wie Dani Rodrik, Mariana Mazzucato, Adam Tooze, Branko Milanovic, Isabella Weber und etliche andere an Konzepten dazu arbeiten, wann und wie der Staat heute wirklich gefragt ist – ob im Kampf gegen den Klimawandel, die Krise der Globalisierung oder den Abbau irrer Ungleichheit. Für die Praxis.
Wie systematische Auswertungen zeigen, gibt es in so gut wie allen international relevanten Organisationen längst Verschiebungen weg vom einst dominierenden Glauben an die Allmacht der Märkte . Ob bei der OECD, die früher die Löhne unbedingt drücken wollte und den Steuerwettlauf nach unten gut fand – und heute mit Verve für Mindestlöhne und globale Mindeststeuern eintritt. Oder beim Internationalen Währungsfonds (IWF), dem der Kapitalverkehr früher nicht frei genug sein konnte – und der heute präventiv Kapitalkontrollen empfiehlt, weil die Märke sonst schon mal außer Kontrolle geraten.
All das muss in ebendieser Logik nicht heißen, dass am Ende der Staat über alles bestimmt – und mehr als heute ausgeben muss. Im Gegenteil: Wenn sich durch bessere Politik und Korrektur von Marktversagen viele Probleme lösen – oder gar nicht erst entstehen – wird der gute Staat weniger Geld ausgeben müssen: weniger für die Beseitigung von Schäden, wenn der Klimawandel gestoppt wird; oder für kriselnde Betriebe, weil die Wirtschaft dank staatlichem Schutz nicht mehr so sehr von der Willkür hibbeliger Finanzakteure oder autoritärer Regime in China oder Russland abhängt; oder für Renten , weil die Wirtschaft in einer besser regulierten Globalisierung mehr erwirtschaften kann und Beschäftigte so in die Rentenkassen einzahlen können.
Die Frage ist nicht, ob der Staat heute alles richtig macht, sondern wie er es besser machten könnte – wo und wenn der Markt es nicht richtet.