Der Kanzler will es, der Finanzminister will es auch. Und es kann sein, dass es mit der frischen Bergluft oben in Davos zu tun hat, dass auch die Idee ganz romantisch rüberkommt. Wenn es gegen all die Krisen derzeit ein Mittel gibt, so Olaf Scholz und Christian Lindner diese Woche beim Weltwirtschaftsforum, dann: mehr Freihandel. Vor allem mit Freunden und Demokratien.
Das klingt wunderbar, soll gegen Abhängigkeiten und künftige Überraschungen von Autoritären wie Wladimir Putin oder dem Chinesen helfen. Und natürlich gut sein für, na ja, uns, also die Exportnation, die vom freien Handel der Sage nach immer so schön profitiert hat.
Nur dass das eben auch arg nach alten Zeiten klingt. Und heute womöglich die blödeste Idee ist, die man zur vorliegenden Problemlage haben kann: jene fatalen Nebeneffekte von Jahrzehnten politisch wie makroökonomisch naiven Freihandels durch noch mehr Freihandel beheben zu wollen – solange die Ursachen der Nebeneffekte nicht behoben sind. Da hilft es auch wenig, romantisch zu sinnieren, dass man so etwas jetzt nur noch mit Freunden und freien Demokratien machen möchte. Und nicht mehr mit den Bösen.
Freunde bleiben nicht immer Freunde
Den Handel mit anderen Ländern auszuweiten, ist an sich natürlich nicht schlecht. Je mehr Länder mit uns handeln, desto weniger sind wir – logisch – von einzelnen abhängig. Schon deutlich weniger überzeugend wirkt beim Nachdenken die Vorstellung, es gebe so etwas wie ewige Freunde und freie Demokratien. Wie schnell der Ton autoritär wird, haben die deutschen Konzerne nach der Wahl Donald Trumps 2016 zu spüren bekommen. Nicht auszuschließen, dass der Mann noch mal regiert – und deutsche Autobauer plötzlich wieder dastehen und merken, wie blöd das ist, von der Laune der blonden Tolle abhängig zu sein.
Frankreich? Könnte beim nächsten Mal von der rechtsextremen Marine Le Pen regiert werden, die verlässlich gegen deutsche Exporte poltert. Italien? Wird schon von rechts regiert – und von einer Regierung, die bei entsprechender Wendung mitmachen würde.
Wenn in den USA nicht nur Donald Trump, sondern seither auch Joe Biden auf Schutz der eigenen Industrie setzen, hat das ja einen durchaus nachvollziehbaren Grund. Und der liegt unter anderem darin, dass der naive Glaube an die Liberalisierung des Handels schon einmal böse geendet ist: als 2000 die Grenzen für Chinas Billigwaren geöffnet wurden – und das binnen weniger Jahre ganze Industrien in den USA verwüstete. Und einst dynamische Autoregionen in einen Rust Belt verwandelten, in dem anschließend Trump plötzlich Mehrheiten bekam. Ähnlich wie in manchen Regionen in den Südstaaten, die unter günstiger mexikanischer Konkurrenz arg zu leiden begannen.
Ärger der USA über Deutschland
Solcher Argwohn traf zunächst die Chinesen. Und dann auch die Deutschen – weil die Wirtschaft eben auch so atemberaubend viel mehr nach Amerika verkaufte, als wir von da kauften. Ein Überschuss im Handel, der auf Dauer weder ökonomisch sinnvoll, noch politisch tragbar ist. Auch wenn das in Deutschland nicht so durchdringen will.
Vergangen? Wo doch der Handelsüberschuss in der Energiekrise sinkt? Von wegen. Wenn Deutschlands Positivsaldo im Außenhandel gerade sinkt, liegt das an der drastisch gestiegenen Rechnung für Energieimporte – aus Russland (bis weit ins vergangene Jahr hinein) oder dem Nahen Osten. Und nicht daran, dass sich das Problem deutscher Exportüberschüsse mit den USA oder anderen »Freunden« erledigt hat.
Im Gegenteil. Absurd, aber wahr: Deutschlands Exportüberschuss ist 2022 gegenüber den USA wieder drastisch gestiegen – und dürfte übers Jahr bei 64 Milliarden Euro gelegen haben, wie sich aus den vorliegenden Daten bis November ableiten lässt. Das sind noch mal rund zehn Milliarden mehr als im Jahr vor der Wahl Trumps. Den Freunden aus der EU verkauften die Deutschen mitten in der großen Corona- und Kriegs-Krisenlage derweil den Rekordbetrag von fast 800 Milliarden Euro – allein bis November. Was aufs Jahr einen Exportüberschuss von fast 120 Milliarden Euro ergeben dürfte. Ein Wumms.
Bei dem Trend ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Argwohn wieder den Deutschen gilt. Und das auch nicht ganz zu Unrecht.
Die Rekordzahlen lassen schon bizarr wirken, wenn der Bundesfinanzminister in seiner Strategiefindung befindet, es müsse heute vor allem darum gehen, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Also andere verdrängen. Freundschaftsdienst? Was will der gute Mann denn noch alles exportieren lassen? Und wie hoch sollen die Überschüsse noch ausfallen? Das ist ökonomisch gaga – bei allem Verständnis dafür, dass Kosten und Lasten hier und da stören.
Noch bizarrer wirkt, die heutigen Probleme durch (noch) mehr Freihandel lösen zu wollen, wenn sich an den Nebenwirkungen nichts ändert. Etwa wenn allzu naiver Freihandel immer wieder regional verheerende Wirkungen hat; und wenn sich am deutschen Hang nichts ändert, immer eher exportieren als importieren zu wollen – und dabei de facto darauf zu setzen, dass die anderen dafür auch immer schön für Kaufkraft sorgen. Mehr Nachfrage. Und dafür Schulden aufnehmen. Das geht auf Dauer eben nicht gut. Ob mit Trump oder ohne.
Und es sollte für Amerikaner und andere dann eher als Alarm wirken, wenn der deutsche Finanzminister gerade gerne ausgibt, wieder mehr Angebots- und keine Nachfragepolitik mehr machen zu wollen. Das wäre in etwa der Kurs, der einst zu den Exzessen deutscher Handelsüberschüsse geführt hat.
Mag sein, dass es vorerst keinen China-Schock wie 2000 mehr geben wird – und entsprechend auch keine neuen Verheerungen in Industrieregionen in den USA, Großbritannien, Frankreich oder anderswo. Nach den Erfahrungen ist nur nachvollziehbar, dass es selbst dem höchst befreundeten US-Präsidenten Joe Biden jetzt erst mal darum geht, die Industrie vor Ort wieder aufzubauen – und dabei gleich die große grüne Wende zu machen. Und dass die Amis nicht begeistert reagieren, wenn deutsche Kanzler und Finanzminister wie diese Woche in den Davoser Bergen wieder mal mehr Freihandel (also eigenen Export) vorschlagen. Das wirkt für die eher wie ein vergifteter Vorschlag.
Zumal absurd wäre, die großen Subventionen in die Klimawende zu bremsen, weil Biden die Industrie vor Ort in den USA besonders zu fördern versuche, sagt Harvard-Ökonom Dani Rodrik.
Wenn die Globalisierung kriselt, dann ja nicht, weil es zu wenig Freihandel gab. Sondern weil die Liberalisierung viel zu lange völlig ungesteuert ihren Weg nahm – und anders als in den hübschen Lehrbüchern eben nicht zu gleichgewichtig stabilem Wohlstandszuwachs führte. Stattdessen hat so mancher Freihandelseffekt eben auch zu Klimawandel, untragbaren Ungleichgewichten, fatalen Abhängigkeiten und existenziellen Krisen in den westlichen Demokratien beigetragen – die nicht weggehen werden, wenn deutsche Kanzler und Finanzminister jetzt noch mehr Freihandel preisen.